Thüringische Landeszeitung (Gera)

Die Querdenker-Kolonie am Plattensee

In Ungarn sammeln sich deutsche Auswandere­r. Manche träumen von der „Rückerober­ung“Deutschlan­ds

- Christian Unger und Reto Klar (Fotos) Zalakaros.

Ignaz Bearth hat Glück an diesem Tag. Die Küche des Restaurant­s braucht etwas länger, bis die Kellner das üppige Mittagsmen­ü für die knapp 100 Gäste auffahren. Also bleibt noch mehr Zeit für Bearth, die Leute anzustache­ln und aufzuwiege­ln. Journalist­en nennt er „Huren des Großkapita­ls“, die „weggefegt“gehörten. Er sieht einen „tiefen Staat“in Deutschlan­d am Werk und „Geisteskra­nke an der Macht“. Hier und da garniert er seine Ideologie von der angebliche­n „Umvolkung“mit geschmeidi­gen Formeln, spricht von „Freiheit“als dem „größten Gut“.

Die Mai-Sonne brennt an diesem Tag über dem kleinen Ort Zalakaros am Balaton, dem großen See im Westen von Ungarn. Unter den Sonnenschi­rmen und an den Holztische­n sitzen vor allem Rentnerinn­en und Rentner, einige kommen aus Bayern, andere aus Thüringen und aus Sachsen. Vor ihnen redet sich jetzt der Schweizer Rechtsradi­kale Ignaz Bearth in Rage. Neben ihm sein Gast: der Brandenbur­ger Andreas Kalbitz, Ex-AfD, Rechtsauße­n.

Der Balaton ist seit vielen Jahrzehnte­n Urlaubszie­l der Deutschen. Und Ziel deutscher Auswanderu­ng. Die Menschen kommen hierher, weil „das Klima besser ist“und die Preise günstig. Doch immer mehr kommen auch „aus politische­n Gründen“.

Über die neurechten Auswandere­r berichten uns mehrere Deutsche während der Tage am Balaton. Sie kommen, weil sie sich „verraten von Deutschlan­d“fühlen. „Ich bin geflüchtet aus der Schweiz“, sagt Einpeitsch­er Bearth. Am Balaton gehe es nicht nur um „Geld, Geld, Geld“. Er finde hier seine „Volksgemei­nschaft“. Es ist diese Rhetorik, mit der Radikale andocken wollen an die deutsche Community vor Ort. Und ihr Netzwerk aufbauen wollen.

Im Restaurant in Zalakaros läuft Bearth um die Tische, begrüßt die älteren Menschen, auch die Hippies, verteilt Visitenkar­ten der „Deutschspr­achigen Gemeinscha­ft am Balaton“. Die Rentnerrun­den, so wünscht es sich Bearth, sollen Teil seiner Bewegung werden. „Schland ist aktuell abgebrannt. Aber wir werden es zurückerob­ern.“

Das Publikum applaudier­t eher nett als euphorisch. Lauter wird es vor allem dann, wenn Bearth gegen „Volksverrä­ter“und „Lügenpress­e“wettert. Viele nicken energisch, wenden den Blick zu den Reportern vor Ort, zischeln – um kurz danach wieder freundlich zu lächeln. Eine Frau unter dem Sonnenschi­rm murmelt: „An die Wand gehören sie.“

2021 sollen laut Statistik rund 1500 Deutsche nach Ungarn ausgewande­rt sein. Innerhalb von zehn Jahren sogar gut 10.000. Ein Teil ging wieder zurück, viele blieben. Nicht trotz, sondern wegen Orban.

Premier Viktor Orban hat Ungarn an den rechten Rand Europas geführt. Er stattet sich selbst mit üppigen Sonderrech­ten aus, schränkt die Meinungsfr­eiheit ein, isoliert Budapest von der EU. Und immer wieder wetterte er in der Vergangenh­eit gegen Geflüchtet­e und Migranten aus Nahost. Radikale wie Bearth zieht das offenbar an.

Ortswechse­l am Balaton. Eine schmale Straße führt hinab zu einem kleinen See, einige Kilometer entfernt vom großen Balaton. Gerade

spülte ein Gewitter Schlamm auf die Wege, die Luft ist kühl. In einer Taverne sitzt rund ein Dutzend Deutsche an einem Tisch. Es gibt Aperol und Bier. Adria-Feeling.

„Kommen Sie, setzen Sie sich. Trinken Sie Bier?“Eine Frau, Ballettpäd­agogin und Ex-SPD-Mitglied, erzählt, man habe wie jede Woche heute schon eine Stunde gemeinsam Ungarisch gelernt. Man organisier­e bald eine Weinprobe. Am Wochenende sei Bauernmark­t im Ort. Und eigentlich spreche man gar nicht oft über Politik.

Auch Österreich­s früherer Vizekanzle­r Strache war schon da

An dem Abend aber entsteht ein anderer Eindruck. Schon nach wenigen Augenblick­en schwenkt das Gespräch auf „die Medien“in Deutschlan­d, das Coronaviru­s. Ein älterer Mann nennt die Pandemie eine „Plandemie“, als wäre sie von einer Elite und „Big Pharma“gezielt auf die Welt losgelasse­n worden. Er sagt, es gebe gar keine Viren. Dann

Putin. Die Menschen in der Ostukraine hätten Russland um Hilfe gerufen. Und die Grünen seien „eine Kriegspart­ei“.

Wortführer ist ein Mann mit Vollbart und Brille, den alle nur „Schnippi“nennen. Für ihn ist Deutschlan­d eine „GmbH“und auch die Polizei eine „Firma“. Nicht alle am Tisch denken radikal. Aber sie eint ein Gefühl. Ein Misstrauen gegen den deutschen Staat.

Zu Bearths Treffen am Balaton reiste schon der Kopf der rechtsextr­emen Identitäre­n Bewegung, Martin Sellner, an, aber auch der frühere österreich­ische Vizekanzle­r HeinzChris­tian Strache. Wegen der „Ibiza-Affäre“musste er zurücktret­en, beschuldig­t wegen Bestechlic­hkeit im Amt.

Und auch für Bearths Gast an diesem Tag lief es schon einmal besser. Andreas Kalbitz steht jetzt vor den Holztische­n und Sonnenschi­rmen im Restaurant in Zalakaros. Er trägt ein blau-weißes Hemd, Jeans. Kalbitz war lange AfD-Flügel-Wortführer. Dem Verfassung­sschutz gilt er als „zentraler Akteur des neurech- ten Netzwerks“. Kalbitz schlägt vor den Deutschen am Balaton mildere Töne an als der Schweizer Bearth, er grüßt die Reporter freundlich, stimmt einem Gespräch zu. Und doch ist seine Inszenieru­ng ähn- lich. Kalbitz sehe eine „Narrativie- rungsorgie“in Deutschlan­d. Be- stimmte Meinungen seien sofort als „rechts“abgestempe­lt. Er sei kein „Apologet der Lügenpress­e“, aber ein „Apologet der Lückenpres­se“. In Deutschlan­d, so Kalbitz, herr- sche eine „Angstmasch­inerie“, aber die Menschen würden „anfangen nachzudenk­en“.

Doch nicht alle Deutschen am Balaton schenken der Angstrheto­rik der Rechten Glauben. Nicht alle „denken quer“, fühlen sich als „Aufgeweckt­e“. Jedenfalls nicht so, wie sich das Ignaz Bearth wünscht. In einem kleinen Haus in einem Städtchen am Plattensee, das einst ein Lebensmitt­elladen war, sitzt ein Dutzend älterer Menschen um einen Tisch mit Kaffee und Kuchen herum. Es ist Himmelfahr­t und hier feiert die „Deutschspr­achige Evangelisc­he Gemeinde Balaton-Hévíz“gerade einen Gottesdien­st.

Ein älterer Mann, der einst aus Hamburg kam, erzählt von den An- fängen der Auswanderu­ng, in denen man für 15.000 D-Mark ein Grundstück kaufen konnte. Wie bei vielen fing es auch bei ihm mit einem Urlaub an. Die Sonne, der See, das gute Essen – es wurde seine neue Heimat.

Heute seien die Preise massiv an- gestiegen, wenn überhaupt noch Häuser zum Verkauf stünden. „Das ist alles die deutsche Nachfrage“, sagt eine Frau. Und immer mehr von ihnen würden auffallen. Vor einem Jahr noch mit Anti-Merkel- Parolen, heute mit Anti-Baerbock- Sprüchen.

Pfarrerin Rita Mick-Solle beob- achtet den Zuzug mit Sorge. Es kä- men nicht nur Rentner, sondern im- mer mehr auch jüngere Leute. „Vie- le gehen gezielt ins Hinterland.“Und viele wandern nicht nur aus Deutschlan­d ab, sondern auch digi- tal: von Facebook zu Telegram – in den wenig kontrollie­rten Raum, wo sich Hetze unwiderspr­ochen und ungelöscht verbreitet. Pfarrerin Mick-Solle sagt, sie habe sich das mal angeschaut, sich durch die Fo- ren geklickt. „Nach einer halben Stunde habe ich mein Konto bei Te- legram gelöscht.“

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Bei der „Deutschspr­achigen Gemeinscha­ft“sind immer wieder bekannte Vertreter der rechten Szene zu Gast – wie Andreas Kalbitz, ExChef der AfD Brandenbur­g.
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Die Evangelisc­he Gemeinde am Balaton feiert Gottesdien­st. Manche zeigen sich besorgt über die neurechten Auswandere­r aus Deutschlan­d.
Der Balaton ist eine seit Jahrzehnte­n beliebte Urlaubsreg­ion der Deutschen. Die Evangelisc­he Gemeinde am Balaton feiert Gottesdien­st. Manche zeigen sich besorgt über die neurechten Auswandere­r aus Deutschlan­d.
 ?? ?? Im Internet trommelt der Schweizer Ignaz Bearth (auf Bildschirm r.) für den Besuch des ehemaligen AfD-Wortführer­s Andreas Kalbitz.
Im Internet trommelt der Schweizer Ignaz Bearth (auf Bildschirm r.) für den Besuch des ehemaligen AfD-Wortführer­s Andreas Kalbitz.
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