Thüringische Landeszeitung (Gera)
Der Liebe wegen im KZ
Theater Gera erzählt vom NS-Schicksal eines Meuselwitzer Homosexuellen
Berlin 1934. Allmonatlich muss sich der schwule Tanzlokalbetreiber Helmut (Thomas C. Zinke) einer Anuskontrolle unterziehen. Um der erniedrigenden, diskriminierenden Prozedur ihren Schrecken zu nehmen, scherzt er mit dem ärztlichen Gutachter (Manuel Struffolino): Kein Mensch habe seinen Anus häufiger gesehen als der Inspektor. Doch für Witze ist der Arzt nicht aufgelegt. Stattdessen schlägt er Helmut eine Kastration vor. Das würde ihnen beiden viel ersparen… Wenig später findet sich Helmut in einem KZ wieder.
Manuel Kressin, Schauspieldirektor des Theaters Altenburg-Gera hat über die Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit ein Schauspiel geschrieben: Sein Stück „Liebe macht frei“, bei dem er auch Regie führte, erlebte jetzt im Großen Haus in Gera seine Uraufführung.
Inspiriert dazu wurde Kressin bereits während der Abiturzeit. Ein älterer Herr erzählte ihm in einem Berliner Café, dass er wegen des „Schwulen-Paragraphs“175 sowohl im Dritten Reich als auch in der Bundesrepublik im Gefängnis saß. Jahre später las Kressin zudem die Biografie des Meuselwitzers Rudolf Brazda, der ebenfalls während des Hitler-Regimes verhaftet und später interniert worden war.
Als Anfang-20-Jähriger war der Ostthüringer Brazda wegen seiner Beziehung zu einem Mann vom Landgericht Altenburg zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. Als vorbestrafter Ausländer wird er nach der Verbüßung in die Heimat seiner Eltern, die Tschechoslowakei, abgeschoben. 1941 wird er auch dort festgenommen und bald darauf ins KZ Buchenwald überstellt. Zunächst muss er im Steinbruch arbeiten. Später darf er in der Sanitätsbude Verletzte behandeln, muss dort aber auch die sexuellen Übergriffe eines Kapo erdulden.
Aus Brazdas Geschichte und weiteren Quellen hat Kressin sein Schauspiel entwickelt. Die Zuschauer begegnen beispielsweise dem jungen Paar Robert (Sebastian Schlicht) und Heinz (Johannes Emmrich), das wie Brazda aus der Provinz stammt. Voll Vorfreude besuchen die Zwei Helmuts schillerndes Berliner Travestielokal.
Über der Szenerie wartet wenig später das Ehepaar Schenk (Bruno Beeke und Mechthild Scrobanita) mit Tochter Charlotte (Rebecca Halm) und Familienfreund Bloch (Thorsten Dara) auf Charlottes Verlobten Hans (Robert Herrmanns). Doch als der endlich auftaucht, wird schnell klar, dass sich der junge Arzt mehr für seine Arbeit interessiert als für seine künftige Frau.
Getrieben von schizophrenem Forscherdrang nimmt Hans die Arztstelle im Lager von Obernazi Bloch an. Hans ist der festen Überzeugung, dass er mit medizinischen Experimenten an „menschlichem Material“ein Mittel gegen Homosexualität finden kann und damit einen Dienst an der Menschheit verrichtet. Im ebenselben Lager werden auch Robert, Heinz und Helmut festgehalten... Es ist ein schwerer, bedrückender Abend, den Manuel Kressin mit fast dem gesamten Schauspielensemble und begleitender Musik von Olav Kröger umsetzt. Kraft und Intensität variieren von Szene zu Szene.
Die Perversitäten der Schreckenszeit werden vor allem dank vielschichtiger Figuren wie Hans, Freddy und Helmut plastisch: Hans, der junge Arzt, der vermeintlich widernatürliche Liebe heilen möchte, aber selbst kaum lieben kann, der sich für bessere Haftbedingungen einsetzt, aber nur damit ihm gesunde, kräftige „Objekte“für seine Menschenversuche zur Verfügung stehen, der zu zweifeln beginnt und zum Schluss doch das Ungeheuerliche tut. Oder Freddy (Markus Lingstädt), der schwule SA-Mann, der nach dem RöhmPutsch die Verfolgung fürchtet, deshalb Sängerin Marie (Marie-Luis Kießling) heiratet und letztlich KZAufseher wird. Neben vielen eindringlichen und erschütternden
Momenten gewinnt man ab und an auch den Eindruck, dass den lose verbundenen Szenen eine Straffung gutgetan hätte. Unvergesslich bleiben die schwebenden Steine: Sie sind ein wunderbares poetisch-surreales Sinnbild für die Grauen des KZ-Steinbruchs (Bühne: Fred Pommerehn).
Mit „Liebe macht frei“hat Manuel Kressin ein Stück geschaffen, das eine lange vernachlässigte Facette der NS-Verfolgung in den Fokus rückt und dennoch zeitgemäß ist. Robert fragt Hans sinngemäß einmal: Wem er damit weh tue, wenn er einen Mann wie ein Mädchen liebe? Niemandem, würde heute wohl die Mehrheit sagen. Aber eben leider immer noch nicht alle.
Weitere Vorstellungen: So., 12. Juni, 18 Uhr, sowie Fr., 24. Juni, und Sa., 25. Juni, jeweils 19.30 Uhr, Großes Haus Gera. Die Premiere in Altenburg ist für So., 2. April 2023, 18 Uhr, geplant.