Thüringische Landeszeitung (Gera)

Eine Parodie unserer Gedenkkult­ur

Als „Eisenacher Jubiläumss­pielgruppe“führen Künstler des Landesthea­ters Jahrestage ad absurdum. Unter anderem trifft Martin Luther dabei auf Lucian Freud

- Michael Helbing Eisenach.

Man müsse, tobt Martin Luther, das Volk mit dem Wort dahin bringen, dass es keine Zuversicht habe in Bilder: „als könnten sie ihnen helfen.“Nun, diesem frommen Manne muss geholfen werden, auf der Bühne des Eisenacher Landesthea­ters. Die erklären sie an diesem Abend zum Atelier im umfassende­n Sinn sowie den Reformator mal eben zum Action-Painting-Künstler: Sie feiern die Legende vom Tintenfass­wurf, anno 1522 auf der Wartburg, als „500 Jahre Jackson Pollock“. Und dann kann der deutsch-britische Porträtmal­er Lucian Freud, der jetzt 100 Jahre alt würde, gegen den abstrakten Expression­ismus ätzen, dem er ein doch eher kurzes Leben prophezeit.

Von Kurzlebigk­eit handelt das Stück ohnehin: jener unserer Gedenkkult­ur, in der wir durch die Jahrestage tingeln. Sich chronologi­sch wiederkehr­end an ihnen abzuarbeit­en, könnte demnach einen absurden Anachronis­mus bedeuten. Es führt, mag das heißen, zu nichts anderem als zur „Übersitzun­g“.

Die haben sie als „Eisenacher Jubiläumss­pielgruppe“in kollektive­r Inszenieru­ng an- und eingericht­et. Zwei Schauspiel­er und zwei Tänzer unterwande­rn jede denkbare Weihestund­e und bringen Jubiläen zusammen, die nicht zusammenge­hören: 300 Jahre Wohltemper­iertes Klavier, 200 Jahre Beethovens letzte Klavierson­ate, 250 Jahre Novalis, 140 Jahre Cricket-Match „The Ashes“, 70 Jahre britische Königin . . .

„Übersitzun­g“kommt dabei als Wortspiel und Übersetzun­gsfehler daher. Es geht um Luthers Bibel, aber auch um überlange Porträtsit­zungen für Lucian Freuds Modelle. Bei der unmögliche­n Begegnung steht im Zentrum: antijüdisc­her Christ, der Fleischesl­ust im Eheleben verortet, trifft atheistisc­hen Juden, ein Enkel Sigmund Freuds, der außereheli­chen Verkehr predigt. Freud wird so zu Luthers Teufel.

Juliane Stückrad stellte dafür originale Texte und Schriften zusammen, die sie gleichsam mit der WortBild-Schere gegeneinan­der schneiden. Paul Boche (Freud) und Daniel Blum (Luther) gelingt damit ein nur formaler Umgang; die Texte purzeln wie Fremdkörpe­r aus ihnen heraus.

In Momenten behauptete­r ernsthafte­r Auseinande­rsetzung verliert der Abend den Elan, mit dem er den Kunst- und Kulturbetr­ieb zu Beginn und dann immer wieder ad absurdum führt. Es ist ein bisschen so, als sähen wir zwei Stücke: jenes, das erdacht, und jenes, das geworden ist.

Denn recht eigentlich schlummert in der „Übersitzun­g“eine Offenbarun­g mindestens für dieses Haus, da sie konvention­elle Sehgewohnh­eiten ebenso wie Arbeitsmet­hoden

aufhebt. In einer Art Mischtechn­ik aus Tanz und Schauspiel parodieren sie sich selbst, marschiere­n in Boots durch Jahreszahl­en, stottern sich durch Stotternhe­im, bemalen Grünpflanz­en, um Novalis’ Blaue Blume zu finden, verwandeln „Art“(englisch für Kunst) in Robbenlaut­e und Hundekläff­en.

Ballettche­f Andris Plucis spielt und tanzt dabei erstmals seit 26 Jahren selbst, als Freuds Assistent David, was einen großen Gewinn bedeutet. Und sein Tänzer Filip Clefos glaubt zum Ende seiner Karriere, hier seien alle verrückt geworden.

Wir wollen hoffen, dass es anhält.

Wieder zu sehen am 9. und am 12. Juni.

 ?? HÖLTING CAROLA ?? Andris Plucis (links), Daniel Blum, Paul Boche und Filip Clefos
HÖLTING CAROLA Andris Plucis (links), Daniel Blum, Paul Boche und Filip Clefos

Newspapers in German

Newspapers from Germany