Thüringische Landeszeitung (Gera)
Eine Parodie unserer Gedenkkultur
Als „Eisenacher Jubiläumsspielgruppe“führen Künstler des Landestheaters Jahrestage ad absurdum. Unter anderem trifft Martin Luther dabei auf Lucian Freud
Man müsse, tobt Martin Luther, das Volk mit dem Wort dahin bringen, dass es keine Zuversicht habe in Bilder: „als könnten sie ihnen helfen.“Nun, diesem frommen Manne muss geholfen werden, auf der Bühne des Eisenacher Landestheaters. Die erklären sie an diesem Abend zum Atelier im umfassenden Sinn sowie den Reformator mal eben zum Action-Painting-Künstler: Sie feiern die Legende vom Tintenfasswurf, anno 1522 auf der Wartburg, als „500 Jahre Jackson Pollock“. Und dann kann der deutsch-britische Porträtmaler Lucian Freud, der jetzt 100 Jahre alt würde, gegen den abstrakten Expressionismus ätzen, dem er ein doch eher kurzes Leben prophezeit.
Von Kurzlebigkeit handelt das Stück ohnehin: jener unserer Gedenkkultur, in der wir durch die Jahrestage tingeln. Sich chronologisch wiederkehrend an ihnen abzuarbeiten, könnte demnach einen absurden Anachronismus bedeuten. Es führt, mag das heißen, zu nichts anderem als zur „Übersitzung“.
Die haben sie als „Eisenacher Jubiläumsspielgruppe“in kollektiver Inszenierung an- und eingerichtet. Zwei Schauspieler und zwei Tänzer unterwandern jede denkbare Weihestunde und bringen Jubiläen zusammen, die nicht zusammengehören: 300 Jahre Wohltemperiertes Klavier, 200 Jahre Beethovens letzte Klaviersonate, 250 Jahre Novalis, 140 Jahre Cricket-Match „The Ashes“, 70 Jahre britische Königin . . .
„Übersitzung“kommt dabei als Wortspiel und Übersetzungsfehler daher. Es geht um Luthers Bibel, aber auch um überlange Porträtsitzungen für Lucian Freuds Modelle. Bei der unmöglichen Begegnung steht im Zentrum: antijüdischer Christ, der Fleischeslust im Eheleben verortet, trifft atheistischen Juden, ein Enkel Sigmund Freuds, der außerehelichen Verkehr predigt. Freud wird so zu Luthers Teufel.
Juliane Stückrad stellte dafür originale Texte und Schriften zusammen, die sie gleichsam mit der WortBild-Schere gegeneinander schneiden. Paul Boche (Freud) und Daniel Blum (Luther) gelingt damit ein nur formaler Umgang; die Texte purzeln wie Fremdkörper aus ihnen heraus.
In Momenten behaupteter ernsthafter Auseinandersetzung verliert der Abend den Elan, mit dem er den Kunst- und Kulturbetrieb zu Beginn und dann immer wieder ad absurdum führt. Es ist ein bisschen so, als sähen wir zwei Stücke: jenes, das erdacht, und jenes, das geworden ist.
Denn recht eigentlich schlummert in der „Übersitzung“eine Offenbarung mindestens für dieses Haus, da sie konventionelle Sehgewohnheiten ebenso wie Arbeitsmethoden
aufhebt. In einer Art Mischtechnik aus Tanz und Schauspiel parodieren sie sich selbst, marschieren in Boots durch Jahreszahlen, stottern sich durch Stotternheim, bemalen Grünpflanzen, um Novalis’ Blaue Blume zu finden, verwandeln „Art“(englisch für Kunst) in Robbenlaute und Hundekläffen.
Ballettchef Andris Plucis spielt und tanzt dabei erstmals seit 26 Jahren selbst, als Freuds Assistent David, was einen großen Gewinn bedeutet. Und sein Tänzer Filip Clefos glaubt zum Ende seiner Karriere, hier seien alle verrückt geworden.
Wir wollen hoffen, dass es anhält.
Wieder zu sehen am 9. und am 12. Juni.