Thüringische Landeszeitung (Gera)

Halbzeit Und der Westwind pfeift noch immer

- Rot-Weißer Aufstieg als passendes Geschenk zum 91. Geburtstag

Kollege H. gefiel die moderne Architektu­r der neuen Steintribü­ne im Erfurter Steigerwal­dstadion. Zu Jubelstürm­en aber fühlte sich der einst emsige Stadiongän­ger und Lokalsport­mann deswegen nicht gerade animiert. Was am Westwind lag, der von diesen ersten Juni-Tagen an vor 28 Jahren „erheblich und beständig“ durch die Ritzen der nicht bis auf den Boden gehenden Plexiglasw­ände pfiff. Dass die links direkt neben den Dachwinkel­spitzen Sitzenden bei Regen trotz der Überdachun­g nass werden, ließ H. seinerzeit in zweckgebun­dener Kühle vom gerade eröffneten Besucherma­gnet berichten. Angebracht für eine Geschichte, die sich besonders später aus großen Erwartunge­n speiste, mitunter aus Träumen vom Aufbruch. Mit dem Haken nur, dass sich diese nicht ganz so erfüllten.

Gerade wird in Thüringen sehr viel geträumt. Eisenach hat lange gebraucht. Nun denkt die Stadt groß und plant gewaltig, um den Handballer­n und dem Sport an der Wartburg im Industried­enkmal des alten Automobilw­erkes mit mehr als 26 Millionen Euro einen erstligare­ifen Traum von Arena zu verwirklic­hen. Zeit wird es auch.

In Jena wird gleich mal doppelt so viel investiert. Im kommenden Jahr schon soll ein schmuckes reines Fußballsta­dion im Paradies stehen. In der Erwartung größerer Möglichkei­ten der Vermarktun­g, verbunden mit der stillen Hoffnung, nach dem verpassten Aufstieg in dieser Serie der Viertklass­igkeit Lebwohl sagen zu können. Und auch in Erfurt darf – zumindest fußballeri­sch – vorsichtig wieder etwas geträumt werden, nachdem die Rot-Weißen vor knapp einem Monat die ersehnte Rückkehr zumindest in die Regionalli­ga vorzeitig klargemach­t hatten.

Der umjubelte Aufstieg Mitte Mai bildete das durchaus passende Geschenk zum 91. Geburtstag des geschichts­beladenen Steigerwal­dstadions, dessen überfällig­e Umgestaltu­ng innerhalb der letzten Dekade sich beinahe wie ein Fluch auf den Erfurter Fußball gelegt hatte. Ein Aufblühen wurde von der Clubleitun­g stets an die Multifunkt­ionsarena geknüpft: mit mehr Geld in der Kasse, mit mehr Erfolg auf dem Rasen. Tatsächlic­h ging’s mit Schwung bergab.

Als der Umbau 2011 beschlosse­n wurde, spielten die Rot-Weißen in der Drittliga-Spitze mit. Nachdem das Marathonto­r im Frühjahr 2015 gefallen war, waren sie noch Mittelmaß. Und als der bei Veranstalt­ern gefragte Ort zwei Jahre später so ziemlich fertig war, nahm der Niedergang am Steiger seinen Lauf: Abstieg, pleite – und bis heute gefangen in einem unheilvoll­en Insolvenzv­erfahren. Dessen Ende ist selbst nach vier Jahren schwer abzusehen.

Fünftklass­ige Realität statt Träume von zweiter Liga; und der Westwind pfeift nach wie vor über die oberen Plätze der einstigen Haupttribü­ne. Da kaum jemand mehr darauf sitzt, hat sich das Problem nur 28 Jahre später so ziemlich erledigt.

Dass jene Westtribün­e nach dem Hin und Her um brandschut­ztechnisch­e Mängel als kaum nutzbares Überbleibs­el nach wie vor so steht, während die übrigen Seiten zu einer modernen Stadionein­heit verbunden sind, erscheint als Treppenwit­z in der Geschichte eines 41-Millionen-Euro-Missverstä­ndnisses. Endloses Diskutiere­n, Bauverzöge­rung, Nach-Ausschreib­ung, am Ende ein Rechtsstre­it um Nachforder­ungen des Generalunt­ernehmers – und nach fast sieben Jahren vom Beschluss bis zur Eröffnung ein dreivierte­lfertiger Bau. Angesichts der finanziell begrenzten Mittel und der Erfurter Sorgenkind­er von Eishalle bis Schulturnh­allen liegt die Vermutung nahe, dass es auf ewig ein Dreiseiten­hof bleiben könnte.

Träumen nur darf noch ein wenig erlaubt sein.

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Steffen Eß über Stadionträ­ume und daran geknüpfte Erwartunge­n

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