Thüringische Landeszeitung (Gera)
Expertenrat fordert Maskenpflicht
Fachleute zeigen drei Szenarien für den Corona-Herbst auf und geben Empfehlungen
Wie soll sich Deutschland auf den Corona-Herbst vorbereiten? Der 19-köpfige Expertenrat der Bundesregierung hat jetzt drei Szenarien entwickelt – und verlangt von der Politik gesetzliche Regelungen, um im Ernstfall schnell reagieren zu können. „Niemand weiß, was im Herbst und Winter passieren wird“, erklärte der Vorsitzende des Rats, Heyo Kroemer, Chef der Charité-Universitätsmedizin, am Mittwoch in Berlin. Klar sei aber: „Die Pandemie ist nicht vorbei.“
Aktuell ist die Situation relativ entspannt – doch für den Herbst erwarten die Experten eine deutlich steigende Belastung: Durch nachlassenden Impfschutz und Impflücken in bestimmten Bevölkerungsteilen bestehe eine relevante Immunitätslücke. Dies sowie die fortschreitende Veränderung des Virus und die Krankheitsaktivität durch andere Atemwegserreger „werden das Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur im Herbst/ Winter wahrscheinlich erneut erheblich belasten“, heißt es in der Stellungnahme. Bei einer starken Infektionswelle sei vor allem in den Kinderkliniken mit einem bedrohlichen Engpass zu rechnen.
Die Experten nennen drei verschiedene Optionen für den Herbst. Beim günstigsten Szenario würde eine komplett neue Virusvariante dominieren, die im Vergleich zur Omikron-Variante weniger krankmachend wäre. In diesem Fall wären stark eingreifende Infektionsschutzmaßnahmen nicht mehr nötig, allenfalls für den Schutz von Risikopersonen. Weil es auch in diesem Fall zu höheren Infektionszahlen durch andere Atemwegserreger wie Influenza kommen dürfte, wäre das Gesundheitswesen trotzdem belastet.
Das zweite Szenario geht von einer Variante aus, bei der die Krankheitslast ähnlich bleibt wie bei den jüngst zunehmenden Omikron-Varianten BA.4 und BA.5. Über die gesamte kältere Jahreszeit würde es zu einem gehäuften Auftreten von Infektionen und Arbeitsausfällen kommen. Trotz der moderaten Covid-19-Belastung der Intensivmedizin könnten die Arbeitsausfälle erneut flächendeckende Maßnahmen wie Masken und Abstandsregeln in Innenräumen, aber auch regionale Kontaktbeschränkungen erforderlich machen, so die
Experten.
Beim ungünstigen Szenario würde eine neue Virusvariante dominieren, die gleichzeitig infektiöser und stärker krankmachend wäre als die bekannten Varianten. Auch vollständig Geimpfte könnten dann ohne Zusatzimpfung bei Vorliegen von Risikofaktoren einen schweren Verlauf entwickeln. Das Gesundheitssystem wäre durch CoronaFälle auf den Intensiv- und Normalstationen stark belastet. Allgemeine Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht und Abstandsgebot könnten bis zum Frühjahr 2023 nötig werden, Patienten möglicherweise bundesweit verlegt werden, im ungünstigsten Fall seien auch weitreichende Kontaktbeschränkungen nötig. Ausgeschlossen haben die Experten eine Variante, gegen die die Impfung überhaupt nicht hilft. Dies sei ein rein theoretisches Szenario, so Charité-Infektiologe Leif Erik Sander.
Der Expertenrat empfiehlt für alle drei Szenarien eine Vorbereitung mit kurzen Reaktionszeiten. Nötig sei eine solide rechtliche Grundlage für mögliche Schutzmaßnahmen – zum Beispiel eine Maskenpflicht in Innenräumen, Test- und Hygienekonzepte
Wir haben in den letzten zweieinhalb Jahren einen wahren Datenblindflug erlebt, der keine gute Grundlage für rationale Entscheidungen war. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer
sowie im Fall einer Überlastung des Gesundheitssystems weitere Kontaktbeschränkungen. Die Konzepte zum Infektionsschutz am Arbeitsplatz sollten weiterentwickelt werden, inklusive einer Homeoffice-Plicht, falls diese wieder notwendig werden sollten. Für die Schulen sollen Konzepte für Wechsel- oder Fernunterricht erarbeitet werden.
Zudem müssten Digitalisierung und Datenlage besser werden. Die Bundesärztekammer begrüßte das: „Wir haben in den letzten zweieinhalb Jahren einen wahren Datenblindflug erlebt, der keine gute Grundlage für rationale Entscheidungen war“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, unserer Redaktion. Nur wenn Klarheit über das Infektionsgeschehen herrsche, könne man die Krankenhaus- und Intensivbettenbelastung prognostizieren. „Grundlage für rationale und wirkungsvolle Corona-Schutzmaßnahmen ist eine aussagekräftige Datenbasis“, so Reinhardt.
Die Empfehlungen des Expertenrats würden die Basis für den Corona-Herbstplan der Bundesregierung, erklärte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). „Wie hoch die Corona-Welle werden wird, kann auch der Expertenrat nicht sagen. Aber dass selbst im günstigsten Fall das Gesundheitswesen stark belastet sein wird, ist relativ sicher.“
Spätestens am 23. September laufen die aktuellen Maßnahmen im Infektionsschutzgesetz aus. Vor einer Entscheidung über die Regeln für den Herbst will Justizminister Marco Buschmann (FDP) zunächst die bis Ende Juni geplante wissenschaftliche Beurteilung der bisherigen Corona-Schutzmaßnahmen abwarten: „Zwischen dem 30. Juni und dem Ende der Sommerpause werden wir gemeinsam mit den Ländern beraten, was zu tun ist.“