Thüringische Landeszeitung (Gera)
Einblicke in die slawische Seele
Preisgekrönte Autorin Natascha Wodin liest in Jena und Weimar aus ihrem Buch über eine ukrainische Putzfrau
Mit ihrem Buch „Sie kam aus Mariupol“gewann Natascha Wodin 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse. Darin begibt sich die Berliner Schriftstellerin mit russisch-ukrainischen Wurzeln auf die Spuren ihrer Mutter, die als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt worden war, nach Kriegsende mit Mann und Kind als heimatlose Ausländerin blieb und sich mit nur 36 Jahren ertränkte. Kommende Woche liest die vielfach ausgezeichnete Autorin Natascha Wodin in Jena und Weimar.
Jena ist für Wodin nicht völlig unbekannt. Nachdem sie zunächst mit dem in Meuselwitz geborenen Schriftsteller Wolfgang Hilbig verheiratet war, stammt ihr heutiger Mann ebenfalls aus Thüringen, aus Jena. Er hatte eine Lesung besucht.
Bei ihren aktuellen Veranstaltungen in Thüringen stellt Natascha Wodin ihren neuen Roman „Nastjas Tränen“vor. Auch dieses Werk trägt autobiografische Züge. Diesmal rückt die Autorin eine ukrainische Freundin ins Zentrum, die sie im Buch Nastja nennt. Die Ingenieurin kam nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Berlin. In der Ukraine wurden Anfang der 90er-Jahre keine Löhne mehr gezahlt. „Nastja hat ihr letztes Gehalt in Form eines Säckchens Reis bekommen“, sagt Wodin. Da sie sich und ihr Enkelkind nicht mehr durchbringen konnte, entschloss sich die Ukrainerin nach Deutschland zu gehen, um zu arbeiten.
„Ich hatte damals gerade eine Putzfrau gesucht, hatte eine Annonce in der Zeitung geschaltet“, erinWodin nert sich die 76-jährige Schriftstellerin. „So habe ich sie kennengelernt.“Nastja sei den Weg gegangen, den viele Ausländer gehen müssten, wenn sie hierzulande arbeiten möchten: „Sie war jahrelang illegal, ist dann aufgeflogen, musste zurück in die Ukraine, konnte dann wieder kommen, hat geheiratet, doch die Zweckehe war eine Katastrophe“, erzählt Natascha Wodin. Inzwischen lebt Nastja von der Witwenrente in der Ukraine. Wobei sie sich aktuell bei ihrer Tochter in den Niederlanden aufhält.
rückt in ihren Büchern Personen aus ihrem Lebensumfeld ins Zentrum. „Die Realität ist fiktiver als jede Fiktion“, sagt sie. „Nastjas Tränen“ermöglicht einen Blick in slawische Befindlichkeiten. Ihre Freundin, erzählt Wodin, habe wie viele Slawen, die nach Deutschland kommen, nie Deutsch gelernt, nie ein deutsches Gericht gegessen. „Sie kam aus Not. Da gibt es keine Neugier, nur Angst“, sagt die Autorin. „Die Slawen haben immer schwere Minderwertigkeitsgefühle gegenüber dem Westen. Sie fühlen sich beschämt, dass sie als Bettler kommen und hier arbeiten wollen.“
Wodin interessiert, wo östliches und westliches Verständnis aufhören, „wo man zu Feinden wird, obwohl man Freund ist.“Sie glaubt, dass auch der aktuelle Krieg auf Missverständnissen beruhe. Den Konflikt erlebt sie „als furchtbar“, auch weil es keine Wahrheiten gebe. „Jede Seite lügt.“Vermutlich kenne sogar niemand die Wahrheit, auch Putin nicht. Dem Kremlchef sei ja möglicherweise weisgemacht worden, dass der Einmarsch in die Ukraine in ein paar Tagen erledigt sei. Im Übrigen glaubten viele Russen, dass ein Nato-Angriff kurz bevorgestanden hätte. Deshalb seien sie auch der Ansicht: Gut, dass Putin ihnen zuvorgekommen ist.
Lesungen
Do, 16. Juni, 19.30 Uhr, KuBus, Theobald-Renner-Str. 1A (eine Veranstaltung der Begegnungsgruppe Judentum im jüdischen Gemeindezentrum Jena und des Lesezirkels im DRK-Seniorenbegegnungszentrum Lobeda)
Fr, 17. Juni, 19.30 Uhr, Kulturzentrum Mon ami