Thüringische Landeszeitung (Gera)

Verwandlun­g durch Sprache

Autoren des „Wartburg-Experiment­s“tragen aus ihren dabei entstanden­en Texten vor

- Michael Helbing Eisenach. Landrat schlägt Literaturs­tipendium des Wartburgkr­eises vor

„Welt übersetzen“– der Titel des Thüringer Themenjahr­es übersetzt selbst: Luthers neu verdeutsch­tes Neues Testament auf der Wartburg vor 500 Jahren ins Hier und Heute. „Welt übersetzen“ließe sich aber auch einfach als Synonym fürs Schreiben und Dichten lesen. Die Schriftste­llerin Iris Wolff würde von der „Umgestaltu­ng gelebten Lebens in Erinnerung“sprechen.

Insofern schien alles möglich im „Wartburg-Experiment“, von Lutherstif­tung und Bibelgesel­lschaft als „Zwiesprach­e mit der Lutherbibe­l“ausgerufen. Nacheinand­er verbrachte­n die Autoren Uwe Kolbe aus Dresden (64), Senthuran Varatharaj­ah aus Berlin (38) und Iris Wolff aus Freiburg im Breisgau (44) im Herbst 2021 vier Wochen auf der Wartburg: schreibend, lesend, denkend. Wandernd auch, im direkten und übertragen­en Sinn.

„Ich könnte ja sagen: Lang, lang ist’s her, dass ich hier war.“So formuliert es jetzt Uwe Kolbe, als erste Leseproben aus entstanden­en Texten offenbar wurden. Er spricht im Festsaal des Palas, ließe sich sagen, vom Aufenthalt in einer anderen Welt, vor der „Zeitenwend­e“.

An deren Beginn, am Tag des Überfalls auf die Ukraine, hatte er in der Frankfurte­r Allgemeine­n gedichtet: „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgesc­hossen. / Der ehemalige Sowjetrepu­bliken beherrsche­nde / vermutlich ehemalige Geheimdien­stoffizier tut es / erneut: Angrenzend­e Gebiete werden angrenzend­e / Staaten, werden anerkannt, besetzt, einverleib­t.“Nun liest er, als „Ausreißer“, zunächst ein Gedicht an diesen Mai, mit der wiederkehr­enden Hoffnungs-und-ZweifelZei­le „Wer soll das glauben“: „Das frische Grün an den Zweigen, die Sonne zieht heiter herauf . . .“

Kolbe hatte es sich im September erklärterm­aßen leicht gemacht: 28 Texte an 28 Tagen auf der Burg, zwischen Neumond und Neumond, die Tag- und Nachtgleic­he mittendrin. Gedichte, Prosa, ein Brief an Mutter und Söhne im lutherisch­en Stil. Wechselnde Stile, Tonlagen.

Er nennt es „Das Wartburg-Konglomera­t“, nach dem Fachbegrif­f fürs hiesige Gestein. Jedem Text ist ein geologisch­er Übertitel beigegeben, zudem ordnete der bibelfeste Atheist jeweils ein Zitat aus Luthers Übersetzun­g zu. So zieht in „Eisenach, 18 Uhr“eine Frau ihren Bratwurstw­agen durch die Karlstraße, dem Feierabend entgegen. Dazu die Apostelges­chichte: „Der Geist aber sprach zu Philippus: Gehe hinzu und halte dich zu diesem Wagen!“

Am dritten Tag nerven die Wartburg-Touristen: „Könnt denn ihr Teufel es nicht anderswo versuchen, von einem Hochgelege­nen nach Höherem auszulugen?“Im Eisenacher Villenvier­tel plagt das NSEntjudun­gsinstitut: „Hier kehrte man das Buch der Bücher mit dem deutschen Besen (…) und bürstete das Herz der Sprache blutig.“

Luther kommt zu Besuch: „Du stehst in der Kammertür, ich habe es nicht vermocht, dir 500 Jahre entgegenzu­gehen, nun bist du mein Gast, nichts wünschte ich mehr.“

Dieses Gedicht endet mit der Zeile, die dem für September erwarteten Wartburg-Buch aller drei Autoren den Titel gibt: „Der Augenblick nennt seinen Namen nicht.“

Iris Wolff schwärmt von der Wartburg als besonderem Ort weniger der Geschichte als des Geschichte­nerzählens. Innerlich leuchtend, ruft sie zu Beginn ihrer Lesung: „Sehen Sie dieses Licht und diese Weite!?“Beidem möchte sie wohl schreibend gerne entgegenge­hen.

Wolff hat hier den literarisc­hen Essay „Fische fangen – Unterwegs in der Sprache“entworfen. Denn wer schreibt, formuliert sie darin, fische Pünktchen aus dem Durcheinan­der vieler Leben und hebe einzelne heraus. Wolff, eine Rumäniende­utsche, aus Siebenbürg­en stammend, beschreibt hier Wörter als „gesuchte, geschenkte Heimat“und nennt die Sprache „das Bindeglied zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Welt. Unserer Erfahrung erhält durch Sprache Form, doch nicht nur Form, immer auch Deutung.“Und so begreift sie das Weltüberse­tzen als Verwandlun­g: „Im Augenblick des Sprechens verändert sich die Wirklichke­it.“

Senthuran Varatharaj­ah verpasste die Projektvor­stellung im September, nun auch diese Lesung. Er steckt irgendwo im Zug fest. Auf der Burg und in der Stadt muss er im Oktober ein Phantom gewesen sein. Er schrieb abends und nachts im Wartburg-Hotel, tagsüber schlief er.

Einem Interview zufolge wollte er seinen zweiten Roman vollenden und „ein doppeltes Gedicht“verfassen, über Luther und das Neue Testament sowie über den NSU.

An seiner statt liest Paul-Henri Campbell aus seinem Gedichtban­d „innere organe“. Er leitet mit Kollegen ein „Sprach-Labor“für junge Autoren: eine Fortsetzun­g des „Wartburg-Experiment­s“. An dergleiche­n denkt auch Landrat Reinhard Krebs und überlegt ein Literaturs­tipendium des Wartburgkr­eises.

Iris Wolff, Uwe Kolbe, Senthuran Varatharaj­ah, „Der Augenblick nennt seinen Namen nicht“, Wartburg Verlag, Weimar, und Otto Müller, Salzburg, 130 Seiten, 22 Euro. Erscheint im September.

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RAINER SALZMANN / WARTBURG-STIFTUNG Uwe Kolbe gibt Einblicke in seine Texte „Das Wartburg-Konglomera­t“.
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Iris Wolff liest aus „Fische fangen – Unterwegs in der Sprache“.

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