Thüringische Landeszeitung (Gera)
Verwandlung durch Sprache
Autoren des „Wartburg-Experiments“tragen aus ihren dabei entstandenen Texten vor
„Welt übersetzen“– der Titel des Thüringer Themenjahres übersetzt selbst: Luthers neu verdeutschtes Neues Testament auf der Wartburg vor 500 Jahren ins Hier und Heute. „Welt übersetzen“ließe sich aber auch einfach als Synonym fürs Schreiben und Dichten lesen. Die Schriftstellerin Iris Wolff würde von der „Umgestaltung gelebten Lebens in Erinnerung“sprechen.
Insofern schien alles möglich im „Wartburg-Experiment“, von Lutherstiftung und Bibelgesellschaft als „Zwiesprache mit der Lutherbibel“ausgerufen. Nacheinander verbrachten die Autoren Uwe Kolbe aus Dresden (64), Senthuran Varatharajah aus Berlin (38) und Iris Wolff aus Freiburg im Breisgau (44) im Herbst 2021 vier Wochen auf der Wartburg: schreibend, lesend, denkend. Wandernd auch, im direkten und übertragenen Sinn.
„Ich könnte ja sagen: Lang, lang ist’s her, dass ich hier war.“So formuliert es jetzt Uwe Kolbe, als erste Leseproben aus entstandenen Texten offenbar wurden. Er spricht im Festsaal des Palas, ließe sich sagen, vom Aufenthalt in einer anderen Welt, vor der „Zeitenwende“.
An deren Beginn, am Tag des Überfalls auf die Ukraine, hatte er in der Frankfurter Allgemeinen gedichtet: „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen. / Der ehemalige Sowjetrepubliken beherrschende / vermutlich ehemalige Geheimdienstoffizier tut es / erneut: Angrenzende Gebiete werden angrenzende / Staaten, werden anerkannt, besetzt, einverleibt.“Nun liest er, als „Ausreißer“, zunächst ein Gedicht an diesen Mai, mit der wiederkehrenden Hoffnungs-und-ZweifelZeile „Wer soll das glauben“: „Das frische Grün an den Zweigen, die Sonne zieht heiter herauf . . .“
Kolbe hatte es sich im September erklärtermaßen leicht gemacht: 28 Texte an 28 Tagen auf der Burg, zwischen Neumond und Neumond, die Tag- und Nachtgleiche mittendrin. Gedichte, Prosa, ein Brief an Mutter und Söhne im lutherischen Stil. Wechselnde Stile, Tonlagen.
Er nennt es „Das Wartburg-Konglomerat“, nach dem Fachbegriff fürs hiesige Gestein. Jedem Text ist ein geologischer Übertitel beigegeben, zudem ordnete der bibelfeste Atheist jeweils ein Zitat aus Luthers Übersetzung zu. So zieht in „Eisenach, 18 Uhr“eine Frau ihren Bratwurstwagen durch die Karlstraße, dem Feierabend entgegen. Dazu die Apostelgeschichte: „Der Geist aber sprach zu Philippus: Gehe hinzu und halte dich zu diesem Wagen!“
Am dritten Tag nerven die Wartburg-Touristen: „Könnt denn ihr Teufel es nicht anderswo versuchen, von einem Hochgelegenen nach Höherem auszulugen?“Im Eisenacher Villenviertel plagt das NSEntjudungsinstitut: „Hier kehrte man das Buch der Bücher mit dem deutschen Besen (…) und bürstete das Herz der Sprache blutig.“
Luther kommt zu Besuch: „Du stehst in der Kammertür, ich habe es nicht vermocht, dir 500 Jahre entgegenzugehen, nun bist du mein Gast, nichts wünschte ich mehr.“
Dieses Gedicht endet mit der Zeile, die dem für September erwarteten Wartburg-Buch aller drei Autoren den Titel gibt: „Der Augenblick nennt seinen Namen nicht.“
Iris Wolff schwärmt von der Wartburg als besonderem Ort weniger der Geschichte als des Geschichtenerzählens. Innerlich leuchtend, ruft sie zu Beginn ihrer Lesung: „Sehen Sie dieses Licht und diese Weite!?“Beidem möchte sie wohl schreibend gerne entgegengehen.
Wolff hat hier den literarischen Essay „Fische fangen – Unterwegs in der Sprache“entworfen. Denn wer schreibt, formuliert sie darin, fische Pünktchen aus dem Durcheinander vieler Leben und hebe einzelne heraus. Wolff, eine Rumäniendeutsche, aus Siebenbürgen stammend, beschreibt hier Wörter als „gesuchte, geschenkte Heimat“und nennt die Sprache „das Bindeglied zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Welt. Unserer Erfahrung erhält durch Sprache Form, doch nicht nur Form, immer auch Deutung.“Und so begreift sie das Weltübersetzen als Verwandlung: „Im Augenblick des Sprechens verändert sich die Wirklichkeit.“
Senthuran Varatharajah verpasste die Projektvorstellung im September, nun auch diese Lesung. Er steckt irgendwo im Zug fest. Auf der Burg und in der Stadt muss er im Oktober ein Phantom gewesen sein. Er schrieb abends und nachts im Wartburg-Hotel, tagsüber schlief er.
Einem Interview zufolge wollte er seinen zweiten Roman vollenden und „ein doppeltes Gedicht“verfassen, über Luther und das Neue Testament sowie über den NSU.
An seiner statt liest Paul-Henri Campbell aus seinem Gedichtband „innere organe“. Er leitet mit Kollegen ein „Sprach-Labor“für junge Autoren: eine Fortsetzung des „Wartburg-Experiments“. An dergleichen denkt auch Landrat Reinhard Krebs und überlegt ein Literaturstipendium des Wartburgkreises.
Iris Wolff, Uwe Kolbe, Senthuran Varatharajah, „Der Augenblick nennt seinen Namen nicht“, Wartburg Verlag, Weimar, und Otto Müller, Salzburg, 130 Seiten, 22 Euro. Erscheint im September.