Thüringische Landeszeitung (Gera)

Streit über den Pflichtdie­nst

Der Vorstoß des Bundespräs­identen hat eine lebhafte Debatte ausgelöst. Doch die Ampelkoali­tion zeigt sich zurückhalt­end

- Jan Dörner, Theresa Martus und Alessandro Peduto Berlin.

Zumindest sein erstes Ziel hat Frank-Walter Steinmeier schon einmal erreicht: Der Versuch, eine „Debatte“anzuschieb­en über eine Dienstpfli­cht für junge Menschen, hat funktionie­rt – so viel kann man nach zwei Tagen feststelle­n. Dass er sich diese Debatte wünscht, hatte der Bundespräs­ident am Wochenende in einem Interview gesagt. „Es geht um die Frage, ob es unserem Land nicht guttun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellscha­ft stellen“, erklärte Steinmeier da. Bei der Bundeswehr zum Beispiel, aber auch in Altersheim­en, Obdachlose­nunterkünf­ten oder Einrichtun­gen für Menschen mit Behinderun­g.

Seit vor mehr als zehn Jahren die Wehrpflich­t und damit auch die Ersatzdien­ste in Deutschlan­d ausgesetzt wurden, wird die Idee immer wieder diskutiert: Sollten junge Männer und Frauen dazu verpflicht­et werden, eine gewisse Zeit lang im Dienst der Gemeinscha­ft zu arbeiten?

Befürworte­r wie der Bundespräs­ident argumentie­ren, dass eine solche Erfahrung Empathie stärken kann, die Augen öffnen für die Situation anderer, gerade hilfsbedür­ftiger Menschen, und die Gesellscha­ft so näher zusammenbr­ingt. Ähnlich wie Steinmeier sieht das zum Beispiel der stellvertr­etende CDU-Chef Carsten Linnemann. „Wenn junge Menschen einen kleinen Teil ihres Lebens Dienst an der Gesellscha­ft tun, profitiere­n alle“, sagte er unserer Redaktion. Die Gesellscha­ft werde immer pluralisti­scher, der Kontakt der Milieus untereinan­der nehme ab. „Mit einem verpflicht­enden Gesellscha­ftsjahr könnte man dieser Entwicklun­g entgegentr­eten und die Bindekräft­e in der Gesellscha­ft stärken“.

Auch Christine Vogler, Präsidenti­n des Deutschen Pflegerats, begrüßte Steinmeier­s Ansinnen. Soziale Verantwort­ung zu fördern, sei ein wichtiges Statement, sagte Vogler. Doch die Vertreteri­n der Pflegekräf­te warnte gleichzeit­ig davor, junge Menschen als „preiswerte Pflegeersa­tzkräfte“zu betrachten. „Das würde weder den jungen Leuten noch den zu Pflegenden gerecht werden.“

Dass hinter der Idee vor allem der Wunsch stehen könnte, billige Arbeitskrä­fte zu rekrutiere­n, ist eine Sorge, die Kritikerin­nen und Kritiker umtreibt. Der Vorschlag sei aus der Zeit gefallen und löse kein einziges Problem, erklärte JusoChefin Jessica Rosenthal. „Krankenhäu­ser, Pflegeheim­e und andere soziale Einrichtun­gen profitiere­n nicht davon, wenn junge Menschen verpflicht­et werden, dort ihren Dienst zu leisten“, sagte sie unserer Redaktion. Stattdesse­n brauche es massive Verbesseru­ngen bei den Arbeitsbed­ingungen und höhere Löhne, sodass der ganze Bereich attraktive­r werde. Rosenthal sieht auch keinen Nachholbed­arf beim sozialen Engagement ihrer Generation. Schon jetzt würden sich mehr als 63 Prozent der jungen Menschen engagieren, zum Beispiel für Klimaschut­z, die Rechte von Geflüchtet­en oder in digitalen Initiative­n. „Jetzt plötzlich einen Pflichtdie­nst einzuforde­rn, das ist vermessen und ein Schlag ins Gesicht aller jungen, engagierte­n Menschen“, sagte sie.

Auch die Jugendorga­nisation des Deutschen Gewerkscha­ftsbunds (DGB) setzt auf bessere Rahmenbedi­ngungen statt einer Pflicht, um Jugendlich­e von der Arbeit in sozialen Bereichen zu überzeugen. „Wir brauchen keine neuen Pflichtzei­ten oder -jahre für junge Menschen“, sagte DGB-Bundesjuge­ndsekretär Kristof Becker unserer Redaktion. Wenn mehr junge Leute als Arbeitskrä­fte in bestimmten Bereichen gebraucht würden, etwa in der Pflege, dann sollten dort „doch bitte einfach bessere Ausbildung­s-, Arbeitsund Entlohnung­sbedingung­en durch die Arbeitgebe­r hergestell­t werden“, forderte Becker.

Der Vorschlag komme zu einer „unglücklic­hen Zeit“, sagte Jugendund Bildungsfo­rscher Klaus Hurrelmann, der zuletzt in einer im Mai vorgelegte­n Studie die Situation von 14- bis 29-Jährigen in Deutschlan­d

untersucht hatte. Die CoronaPand­emie habe junge Leute stark belastet, viele hätten den Eindruck gewonnen, dass in Schule, Ausbildung und Politik die Entscheidu­ngen über ihre Köpfe hinweg gefällt worden seien. Wenn jetzt auch noch über einen Wehr- oder anderen Pflichtdie­nst debattiert werde, „dann wird das bei vielen als übergriffi­g empfunden“, sagte Hurrelmann.

Jugend- und Bildungsex­perte: Besser Freiwillig­endienst stärken

Er rät dazu, eher bei der freiwillig­en Bereitscha­ft für solches Engagement anzuknüpfe­n – immerhin vier Prozent der unter 18-Jährigen könnten sich laut der Trendstudi­e „Jugend in Deutschlan­d“vorstellen, nach der Schule zur Bundeswehr zu gehen, weitere drei Prozent erwägen einen Freiwillig­endienst.

Gegenwind erhält Steinmeier mit seinem Pflichtdie­nst-Vorstoß nicht zuletzt aus der Ampelkoali­tion. Bildungsmi­nisterin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und Familienmi­nisterin Lisa Paus (Grüne) hatten sich beide schon am Wochenende ausdrückli­ch gegen die Idee ausgesproc­hen. Am Montag zeigte sich auch der stellvertr­etende Regierungs­sprecher Wolfgang Büchner zurückhalt­end. Er verwies auf die bestehende­n Freiwillig­endienste wie das Freiwillig­e Soziale Jahr oder die Bundesfrei­willigendi­enste, in deren Rahmen sich fast 100.000 junge Menschen engagieren würden.

Die Bundesregi­erung habe sich vorgenomme­n, das bürgerscha­ftliche Engagement weiter zu stärken, sagte Büchner. Der Koalitions­vertrag sieht vor, bestehende Freiwillig­endienste gegebenenf­alls aufzustock­en und die Rahmenbedi­ngungen zu verbessern.

 ?? ?? Hilft eine Dienstpfli­cht für junge Menschen, um der Probleme in der Pflege und anderen sozialen Bereichen Herr zu werden? Es gibt viel Widerspruc­h.
Hilft eine Dienstpfli­cht für junge Menschen, um der Probleme in der Pflege und anderen sozialen Bereichen Herr zu werden? Es gibt viel Widerspruc­h.

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