Thüringische Landeszeitung (Gera)

Der Totengräbe­r von der Front

Auf einem Friedhof in der Südukraine werden gefallene Soldaten beerdigt. Letzte Ruhe finden sie dort nicht

- Jan Jessen und Reto Klar Mykolajiw. Für die Russen hat Anton nur wüste Schimpfwor­te übrig

Anton stapft zwischen den Grabstelle­n umher, er hat Schlappen und Shorts an, aber die dornigen Disteln machen ihm nichts aus. Er konzentrie­rt sich darauf, das Grab des Offiziers zu finden, der am Vortag beerdigt wurde. Er ärgert sich, weil er es nicht findet. „Ich war nicht da“, entschuldi­gt er sich. Das ist eine Ausnahme. Normalerwe­ise ist Anton immer da, wenn auf dem Balabaniv’ke-Friedhof nahe der südukraini­schen Stadt Mykolajiw Menschen zur letzten Ruhe gebettet werden. Der hagere 41-Jährige mit dem kahl rasierten Kopf und dem schmalen Gesicht ist der Totengräbe­r, er teilt sich den Job mit einem Kollegen.

In dem Krieg, den Russland im Februar in die Ukraine getragen hat, sind nach Schätzunge­n der Vereinten Nationen bislang etwa 4000 Zivilisten ums Leben gekommen. Die Regierung in Kiew geht von weit höheren Zahlen aus. Die Zahl von ebenfalls etwa 4000 getöteten Soldaten, die offiziell gemeldet wird, wird angesichts der erbarmungs­losen Kämpfe im Osten und Süden des Landes hingegen deutlich zu niedrig sein. Einige Opfer dieses Krieges sind im Süden der Ukraine auf einem Friedhof zwischen Mykolajiw und Halyzynowe beerdigt, der vor einigen Jahrzehnte­n in der Steppenlan­dschaft errichtet wurde.

Auf diesem Friedhof entfalten sich die Auswirkung­en des Krieges nicht mit der überwältig­enden Wucht der Gottesäcke­r in Butscha oder Irpin nahe Kiew, wo sich die frischen Gräber der ermordeten Zivilisten aneinander­reihen, oder des neuen Gräberfeld­s auf dem Zentralfri­edhof in Lwiw nahe der polnischen Grenze, wo Dutzende Soldaten beerdigt sind. Auf dem Balabaniv’ke-Friedhof liegen die Gräber der Toten des Krieges verstreut. Über manchen weht die ukrainisch­e Fahne, das sind häufig die letzten Ruhestätte­n von gefallenen Soldaten.

Auf diesem Friedhof kann man den Krieg aber hören. Ein tiefes Grollen rollt immer wieder von Halyzynowe heran, in vielleicht zwei, drei Kilometer Entfernung steigt eine dichte, schmutzig-weiße Rauchwolke auf. Dahinten sind die Stellungen der ukrainisch­en Armee.

Bereits kurz hinter Mykolajiw haben die Ukrainer Verteidigu­ngsstellun­gen

in die flache Landschaft gegraben. „Heute ist schon ein paarmal etwas hereingeko­mmen“, sagt Anton und zuckt die Schultern. Ihn schreckt das Gedonner längst nicht mehr. Wenn es lauter knallt, bellen aber die fünf Hunde, die er betreut, seit er hier vor vier Jahren angefangen hat, und die Vögel steigen aufgeregt aus den Birken zwischen den Gräbern auf.

Ein paarmal schon sind Geschosse auch auf dem Friedhof eingeschla­gen; ganz in der südöstlich­en Ecke, wo viele Gräber schon von ausgedörrt­em Gras überwucher­t sind, haben einige der schwarzen Grabsteine mit den Porträts der Toten kreisrunde Narben, die Schrapnell­e, vielleicht auch Streumunit­ion in den Marmor geschlagen haben. Anton findet das empörend. „Nicht einmal die Toten lassen sie in Ruhe“, grummelt er und schüttelt den Kopf.

Wenn das Rumoren des Krieges nicht wäre, wäre der Balabaniv’keFriedhof fast so etwas wie ein idyllische­r Ort. Wenn es ruhig ist, rauschen die Blätter der Birken im

Wind, Vögel zwitschern. Zwischen den Gräbern wächst roter Mohn, vor manchen der Grabstelle­n stehen kleine Bänke, auf denen man seinen Gedanken an die Verblichen­en nachhängen kann.

An einigen der hölzernen orthodoxen Kreuze mit zwei waagrechte­n und einem schrägen Balken sind die Bilder von Männern in Uniform befestigt. Die Beerdigung von Soldaten geht Anton besonders nahe, erzählt er: „Der Tod eines Menschen ist immer eine Tragödie. Aber wenn ein alter Mensch stirbt, dann hat er ein langes Leben gelebt. Wenn junge Menschen im Krieg sterben, dann ist das noch trauriger.“

In dem kleinen Häuschen neben dem Eingang des Friedhofs hat Anton einen Raum, in dem er sich ausruhen kann. Ein Bett mit einer Wolldecke, die länger nicht gewaschen wurde, ein hölzerner Tisch, auf dem viele leere Wasserflas­chen und benutzte Kaffeebech­er stehen, darüber ein Käfig, in dem ein Wellensitt­ich hin und her hopst, und der Fernseher, auf dessen Bildschirm die Nachrichte­n aus dem Krieg flimmern.

Alles hat sich durch den Krieg verändert, sagt Anton. „Viele Geschäfte haben geschlosse­n, alles ist teurer geworden, wir hören jeden Tag die Explosione­n.“Er sagt aber auch, dass er nichts mehr zu tun habe. Zum einen sei der Friedhof ohnehin fast voll, weswegen er nicht mehr so häufig für Beerdigung­en genutzt werde, zum anderen seien ja viele Menschen geflohen.

Ob er Angst habe, wo doch auch der Friedhof schon getroffen wurde? Anton wiegt seinen Kopf: „Nein. Sie können dich doch überall erreichen; ob du hier bist oder an einem See spazieren gehst.“Er überlegt wieder kurz. „Man stirbt irgendwann. Das ist ein Fakt. Da muss man sich nicht zu viele Gedanken drüber machen.“

Auf der Straße vor dem Friedhof ist ein lautes Rasseln zu hören. Eine gepanzerte Haubitze der ukrainisch­en Armee fährt vorbei, sie kommt offenbar gerade von der Front. Für die Russen hat Anton nur wüste Schimpfwor­te übrig. „Die verstehen gar nicht, wie viel Schaden sie über ihr Land bringen. Es gibt da jetzt schon so viele Witwen.“Er lacht plötzlich, ihm ist ein Wortspiel eingefalle­n: „Die bringen ihr Land selbst unter die Erde.“

Die Regierung in Kiew hat das Ukrainisch­e Institut für Nationale Erinnerung damit beauftragt, neue Beerdigung­spraktiken zu entwerfen, orientiert an westlichen Riten und denen der ukrainisch­en Kosaken aus vergangene­n Jahrhunder­ten. Man will sich vom Sowjeterbe befreien. Das berichtet die amerikanis­che „Washington Post“. Das Parlament hat außerdem für die gefallenen Soldaten den Aufbau eines Nationalfr­iedhofs nach dem Vorbild des Friedhofs in Arlington beschlosse­n. Anton ist das gleich. Er schaufelt nur die Gräber aus.

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„Wir hören jeden Tag die Explosione­n“, erzählt Anton, der Totengräbe­r von der Front, auf dem Friedhof in Mykolajiw.
RETO KLAR / FUNKE FOTO SERVICE (2) Auf den Gräbern von Soldaten weht die ukrainisch­e Fahne „Wir hören jeden Tag die Explosione­n“, erzählt Anton, der Totengräbe­r von der Front, auf dem Friedhof in Mykolajiw.

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