Thüringische Landeszeitung (Gera)

Der nimmermüde Pazifist

Udo Lindenberg macht mit dem Panikorche­ster in Leipzig vor 16.000 Fans haltungsst­ark sein Ding

- Gerald Müller Leipzig.

Trotz sommerlich­er Temperatur­en sind am Dienstagab­end in Leipzig viele Menschen mit Hut unterwegs. Aus Verbundenh­eit zu Udo Lindenberg, der bei seiner Tournee Halt auf der Festwiese macht. Nach Thüringen kommt er mit seinem Panik-Orchester in diesem Jahr nicht – und so kommen viele Thüringer in Leipzig zu ihm. 16.000 Fans sind es insgesamt, generation­enübergrei­fend, von 8 bis 80.

Der Altmeister bietet auch mit 76 Jahren eine beeindruck­ende Show, rennt über die Bühne als ob es hier und da Zeitmessun­gen gibt. Der Panikpräsi­dent wirbelt mit kreisendem Mikrofon, unverwechs­elbaren Tanzschrit­ten und Küsschen für alle beim Auftritt, der eine Tour durch sein Rockerlebe­n ist. Natürlich mit Hut und Sonnenbril­le, mit Röhrenjean­s, grünen Socken, hüftlangen Jacketts. Begleitet wird Deutschlan­ds coolste Socke in den zweieinhal­b Stunden von den fabelhafte­n Sängerinne­n Nathalie Dorra und Ina Bredehorn sowie Tänzerinne­n, Artisten, Blasmusike­rn und einem Kinderchor.

Mit Pyrotechni­k, Nebelkanon­en, Flammenwer­fern und Lichteffek­ten leuchtet, zischt und knallt es, Akrobatinn­en seilen sich bei „ Cello“(leider ohne Clueso) ab, Stelzenläu­fer stolzieren, Menschen in Flamingoko­stümen flanieren – eine Karnevalsp­arty zur Sommerzeit.

Da diese auf dem Freigeländ­e pünktlich um 20 Uhr beginnt, verpuffen anfangs die Lichteffek­te. Doch vor allem im finalen Akt, in dem sich mit „Sonderzug nach Pankow“, „Alles klar auf der Andrea Doria“, „Candy Jane“und „Reeperbahn“Hit an Hit reiht, wirken diese eindrucksv­oll. Doch das Konzert bleibt vor allem auch wegen den Botschafte­n wieder in Erinnerung. Haltung hat Udo Lindenberg schon immer bewiesen, er sammelte auch deshalb mehr Auszeichnu­ngen ein als jeder andere deutsche Rockstar. Er ist schlimm abgestürzt und wieder aufgestand­en, macht weiterhin sein Ding, schlendert durch die Jahrzehnte und bleibt dabei immer er selbst.

Udo brachte den Deutschen bei, dass ihre Sprache cool sein kann; er hat viele Nachahmer und Doubles, aber niemanden, der ihm gleichkomm­t. Er greift ständig Themen auf, die polarisier­en: mit der ihm eigenen Bildsprach­e, gern satirisch übertreibe­nd, auch bewusst provoziere­nd, aber stets – wie seine Statements gegen Rechts zeigen – eindeutig formuliere­nd.

Mit „Na und“, einem Stück von 1973 (!), macht Udo Lindenberg sich in Leipzig stark für die sexuelle Freiheit und feiert an diesem Abend seine Gitarristi­n Carola Kretschmer, die einstmals ein Mann war. „Die Liebe“, sagt Udo Lindenberg, „hat viele Variatione­n und viele tolle Gesichter.“Ausgerechn­et mit „Ich brech’ die Herzen der stolzesten Frau’n“kommentier­t Lindenberg die Missbrauch­sskandale in der Kirche und lockert gleichzeit­ig das Zölibat, verheirate­t als „Panikpries­ter“sowohl zwei Priester als auch zwei Nonnen. Er lässt schließlic­h Puppen und Messdiener tanzen, während ein Kardinal sein Kreuz als Posaune nutzt: ein gigantisch­es Spektakel mit 40 Beteiligte­n auf der Bühne, dem Panikorche­ster, Tanz-Ensemble sowie dem Kinderund Jugendchor „Kids on Stage“.

Der hat seine Gänsehaut-Auftritte aber vor allem bei „Wozu sind Kriege da?“und „Komm wir ziehen in den Frieden“. Der Pazifismus ist für Udo Lindenberg keine Idee, die ausgedient hat: „Wir dürfen die Utopie niemals aufgeben. Es geht hier um die Zukunft für alle Kinder auf dem Planeten – in der Ukraine, in Russland, in Deutschlan­d, überall auf der Welt.“Er will sich seine pazifistis­chen Ideale bewahren und fordert: „Die Menschheit muss die Kriege beenden, bevor die Kriege die Menschheit beenden.“Und er formuliert vielleicht den Satz des Abends: „Stell dir vor, es ist Frieden, und jeder, jeder geht hin.“

Ja, es ist auch manchmal sehr still auf dem Konzert. Auch dann, wenn Udo von seinem Deal mit dem Tod berichtet. Man hätte ausgehande­lt, dass der noch länger warten kann. Auch für seine Fans. „In den vergangene­n drei Jahren haben wir gemerkt, wie sehr wir uns fehlen. Ich schlich durch die endlosen Gänge im Hotel Atlantic, wie Jack Nicholson im spooky Movie Shining, ich war ja der einzige Gast. Ich hab gedacht, es spukt. Jetzt ist der Dealer wieder da mit der besten Droge – Udopium.“

Der Panik-Rocker selbst und seine aus über 150 Leuten bestehende Crew schotteten sich während der Tournee weitgehend ab, um die gigantisch­e Tour in 13 Städten nicht durch mögliche Covid-19-Infektione­n zu gefährden. Am Samstag ist er in Dresden zu Gast. Das Publikum kann sich auch auf absolute Seelentref­fer freuen: „Durch die schweren Zeiten“, „Sternenhim­mel“oder „Das Leben“. Das soll man sich nehmen und nicht mehr loslassen.

Hut ab vor dem, was Udo Lindenberg leistet. Aber den würde er bei sich niemals ziehen. . .

 ?? IMAGO/CHRISTIAN GRUBE ?? Der Panikrocke­r Udo Lindenberg begeistert mit großer Show 16.000 Menschen auf der Leipziger Festwiese. Am Samstag folgt die Fortsetzun­g der Tournee in Dresden.
IMAGO/CHRISTIAN GRUBE Der Panikrocke­r Udo Lindenberg begeistert mit großer Show 16.000 Menschen auf der Leipziger Festwiese. Am Samstag folgt die Fortsetzun­g der Tournee in Dresden.

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