Thüringische Landeszeitung (Gera)
BDI-Präsident: Kohleenergie statt Gasverstromung
Industriepräsident Siegfried Russwurm fürchtet um die Energieversorgung – und macht einen Vorstoß zur Wochenarbeitszeit
Vor dem Hintergrund der unsicheren Gasversorgung hat der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, dazu aufgerufen, wieder stärker auf Kohleenergie zu setzen. „Mein Appell ist: Jetzt schon die Gasverstromung stoppen und sofort die Kohlekraftwerke aus der Reserve holen“, sagte er. „Wenn die Versorgungslage im Sommer sich tatsächlich so schwierig entwickelt, wie es aktuell wahrgenommen wird, müssen wir diese Option jetzt ziehen.“Klimaschutz-Bedenken wollte Russwurm nicht gelten lassen. Ob jetzt oder im Winter mehr Kohle verstromt werde, sei „für die CO2-Emissionen nicht erheblich, aber so sichern wir uns zumindest höhere Füllstände in den Gasspeichern“. Es gehe um kurzfristige Überbrückungsmaßnahmen zur Sicherung der Energieversorgung. Forderungen nach einer Verlängerung der Atomlaufzeiten nannte Russwurm unrealistisch.
Dreht Putin den Deutschen den Gashahn zu? Gedrosselt hat Russland die Lieferungen schon. Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), richtet im Interview mit unserer Redaktion einen dramatischen Appell an die Politik, sich auf einen Gas-Stopp einzustellen. Die Atomkraft indes spielt in seinen Überlegungen keine große Rolle mehr. Wie haben sich vier Monate Krieg in der Ukraine auf die deutsche Wirtschaft ausgewirkt?
Siegfried Russwurm: Die russische Invasion macht dieses Jahr auch wirtschaftlich extrem herausfordernd. Der Krieg schwächt das Wirtschaftswachstum erheblich. Es gibt Branchen wie Glas-, Keramikoder Stahlindustrie, die ganz unmittelbar leiden, in etlichen anderen Bereichen hat das erhebliche Folgeeffekte. Die Unternehmen passen sich an die Situation an und kämpfen sich durch. In einigen wenigen Branchen läuft es besser, zum Beispiel in der Gesundheitsindustrie. Die Bundesregierung rechnet für das laufende Jahr noch mit einem Wachstum von 2,2 Prozent – ist das zu optimistisch?
Wir sehen sehr viele Unsicherheitsfaktoren. Versorgungsnetzwerke und Lieferketten sind zum Zerreißen gespannt. Noch immer beschäftigen uns das Coronavirus und seine Folgen – akut durch die fehlgeschlagene Null-Covid-Politik Chinas, perspektivisch in der Sorge vor neuen Virusvarianten. Rechnen Sie mit einer Rezession?
Wir gehen momentan noch von einer positiven Zahl aus. Aber unsere Erwartungen an Produktion und Exporte fallen geringer aus als zu Jahresbeginn. Es braucht Rahmenbedingungen, mit denen unsere Unternehmen klarkommen – Kosten,
Steuern und Abgaben. Die Situation bleibt fragil. Welche Folgen hätte ein Importstopp für russisches Gas?
Ein Ausfall der russischen Gaslieferungen würde sofort zu massiven Einbrüchen in der Industrieproduktion führen und ganz Europa belasten. Dann wären wir deutlich in den roten Zahlen, was Konjunktur und Beschäftigung angeht. Was erwarten Sie von der Regierung, um die Energieversorgung zu sichern?
Es ist richtig, den Import von Flüssiggas zu ermöglichen, etwa aus Nordamerika oder Katar – und dafür rasch die Infrastruktur an der Küste zu bauen. Außerdem müssen wir den Verbrauch von Gas so stark wie möglich reduzieren, jede Kilowattstunde zählt. Priorität muss sein, die Gasspeicher zu füllen für den kommenden Winter. Mein Appell ist: Jetzt schon die Gasverstromung stoppen und sofort die Kohlekraftwerke aus der Reserve holen. Wenn die Versorgungslage im Sommer sich tatsächlich so schwierig entwickelt, wie es aktuell wahrgenommen wird, müssen wir diese Option jetzt sofort ziehen. Denn der Import von Strom aus Nachbarländern hat seine Grenzen. Und ob wir jetzt oder im Winter mehr Kohle verstromen, ist für die CO2-Emissionen nicht erheblich, aber so sichern wir uns zumindest höhere Füllstände in den Gasspeichern. Wie realistisch sind die Pläne der Ampel dann noch, den Kohleausstieg von 2038 auf 2030 vorzuziehen?
Aktuell geht es um kurzfristige Überbrückungsmaßnahmen zur Sicherung der Energieversorgung, nicht um 2038 oder 2030. Ich sage nicht, dass ein Kohleausstieg in diesem Zeitraum völlig außerhalb aller Möglichkeiten wäre. Die erneuerbaren Energien scheinen für Sie keine besondere Rolle zu spielen.
Ganz im Gegenteil. Auch da müssen wir massiv beschleunigen – jetzt! Zur Sicherung der Versorgung und für die Transformation unseres Landes zum klimaneutralen Industrieland. Auf welche Erneuerbaren setzen Sie?
Deutschland muss sich endlich von lähmenden Klein-Klein-Debatten und Blockadehaltungen verabschieden und beim Erneuerbaren-Ausbau runter von der Bremse. Politik und Verwaltung müssen schleunigst den Turbo einschalten für die Ausweisung neuer Flächen für Windkraft- und Solarkraftanlagen und für schnellere Genehmigungen. Die Stromerzeugung aus Wind ist die mit Abstand wichtigste Quelle von erneuerbaren Energien in Deutschland. Die FDP hat die Debatte über längere Atomlaufzeiten neu entfacht. Wie realistisch ist das?
Die Bundesregierung ist in ihrer Prüfung zu dem Schluss gekommen, eine Laufzeitverlängerung bei den verbliebenen drei Meilern lohne sich nicht. Und der Protest der Betreiber gegen diese Aussage war nicht besonders laut. Trotzdem, wenn diese drei Kernkraftwerke Ende des Jahres auch noch vom Netz genommen werden, dann wird der Ausgleichsbedarf noch größer, was kurzfristig bedeutet: mehr Kohle. Das muss jeder bedenken. Für den Fall von Engpässen in der Energieversorgung: Akzeptieren Sie, dass Privathaushalte weiter beliefert werden sollen, Industriebetriebe aber nicht?
Die Idee, es könne bei der Bundesnetzagentur einen Vorrangschalter für private Haushalte geben, ist falsch. Es gibt keine Erfahrungswerte, wie unser Gasnetz reagiert, wenn wir massiv aus dem Norden und Westen statt aus dem Osten einspeisen. Ich bin mir nicht sicher, wie viel davon im Süden ankommt. Die Physik spricht ein wesentliches Wort mit. Wir sollten alles dafür tun, dass es nicht zu Engpässen kommt. Um der Inflation zu begegnen, haben Ökonomen eine Verlängerung der Arbeitszeit ins Gespräch gebracht. Wie denken Sie über eine 42-Stunden-Woche?
Wenn die Babyboomer in Rente gehen, geht diesem Land massiv Arbeitskraft verloren, und schon heute fehlen uns an vielen Stellen Arbeitskräfte. Ich habe persönlich große Sympathie für eine optionale Erhöhung der Wochenarbeitszeit – natürlich bei vollem Lohnausgleich. Haben Sie ähnliche Sympathie für die Rente mit 70?
Eine 42-Stunden-Woche wäre sicherlich leichter umzusetzen als eine allgemeine Einführung der Rente mit 70.