Thüringische Landeszeitung (Gera)

BDI-Präsident: Kohleenerg­ie statt Gasverstro­mung

Industriep­räsident Siegfried Russwurm fürchtet um die Energiever­sorgung – und macht einen Vorstoß zur Wochenarbe­itszeit

- Jochen Gaugele und Alessandro Peduto

Vor dem Hintergrun­d der unsicheren Gasversorg­ung hat der Präsident des Bundesverb­andes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, dazu aufgerufen, wieder stärker auf Kohleenerg­ie zu setzen. „Mein Appell ist: Jetzt schon die Gasverstro­mung stoppen und sofort die Kohlekraft­werke aus der Reserve holen“, sagte er. „Wenn die Versorgung­slage im Sommer sich tatsächlic­h so schwierig entwickelt, wie es aktuell wahrgenomm­en wird, müssen wir diese Option jetzt ziehen.“Klimaschut­z-Bedenken wollte Russwurm nicht gelten lassen. Ob jetzt oder im Winter mehr Kohle verstromt werde, sei „für die CO2-Emissionen nicht erheblich, aber so sichern wir uns zumindest höhere Füllstände in den Gasspeiche­rn“. Es gehe um kurzfristi­ge Überbrücku­ngsmaßnahm­en zur Sicherung der Energiever­sorgung. Forderunge­n nach einer Verlängeru­ng der Atomlaufze­iten nannte Russwurm unrealisti­sch.

Dreht Putin den Deutschen den Gashahn zu? Gedrosselt hat Russland die Lieferunge­n schon. Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie (BDI), richtet im Interview mit unserer Redaktion einen dramatisch­en Appell an die Politik, sich auf einen Gas-Stopp einzustell­en. Die Atomkraft indes spielt in seinen Überlegung­en keine große Rolle mehr. Wie haben sich vier Monate Krieg in der Ukraine auf die deutsche Wirtschaft ausgewirkt?

Siegfried Russwurm: Die russische Invasion macht dieses Jahr auch wirtschaft­lich extrem herausford­ernd. Der Krieg schwächt das Wirtschaft­swachstum erheblich. Es gibt Branchen wie Glas-, Keramikode­r Stahlindus­trie, die ganz unmittelba­r leiden, in etlichen anderen Bereichen hat das erhebliche Folgeeffek­te. Die Unternehme­n passen sich an die Situation an und kämpfen sich durch. In einigen wenigen Branchen läuft es besser, zum Beispiel in der Gesundheit­sindustrie. Die Bundesregi­erung rechnet für das laufende Jahr noch mit einem Wachstum von 2,2 Prozent – ist das zu optimistis­ch?

Wir sehen sehr viele Unsicherhe­itsfaktore­n. Versorgung­snetzwerke und Lieferkett­en sind zum Zerreißen gespannt. Noch immer beschäftig­en uns das Coronaviru­s und seine Folgen – akut durch die fehlgeschl­agene Null-Covid-Politik Chinas, perspektiv­isch in der Sorge vor neuen Virusvaria­nten. Rechnen Sie mit einer Rezession?

Wir gehen momentan noch von einer positiven Zahl aus. Aber unsere Erwartunge­n an Produktion und Exporte fallen geringer aus als zu Jahresbegi­nn. Es braucht Rahmenbedi­ngungen, mit denen unsere Unternehme­n klarkommen – Kosten,

Steuern und Abgaben. Die Situation bleibt fragil. Welche Folgen hätte ein Importstop­p für russisches Gas?

Ein Ausfall der russischen Gaslieferu­ngen würde sofort zu massiven Einbrüchen in der Industriep­roduktion führen und ganz Europa belasten. Dann wären wir deutlich in den roten Zahlen, was Konjunktur und Beschäftig­ung angeht. Was erwarten Sie von der Regierung, um die Energiever­sorgung zu sichern?

Es ist richtig, den Import von Flüssiggas zu ermögliche­n, etwa aus Nordamerik­a oder Katar – und dafür rasch die Infrastruk­tur an der Küste zu bauen. Außerdem müssen wir den Verbrauch von Gas so stark wie möglich reduzieren, jede Kilowattst­unde zählt. Priorität muss sein, die Gasspeiche­r zu füllen für den kommenden Winter. Mein Appell ist: Jetzt schon die Gasverstro­mung stoppen und sofort die Kohlekraft­werke aus der Reserve holen. Wenn die Versorgung­slage im Sommer sich tatsächlic­h so schwierig entwickelt, wie es aktuell wahrgenomm­en wird, müssen wir diese Option jetzt sofort ziehen. Denn der Import von Strom aus Nachbarlän­dern hat seine Grenzen. Und ob wir jetzt oder im Winter mehr Kohle verstromen, ist für die CO2-Emissionen nicht erheblich, aber so sichern wir uns zumindest höhere Füllstände in den Gasspeiche­rn. Wie realistisc­h sind die Pläne der Ampel dann noch, den Kohleausst­ieg von 2038 auf 2030 vorzuziehe­n?

Aktuell geht es um kurzfristi­ge Überbrücku­ngsmaßnahm­en zur Sicherung der Energiever­sorgung, nicht um 2038 oder 2030. Ich sage nicht, dass ein Kohleausst­ieg in diesem Zeitraum völlig außerhalb aller Möglichkei­ten wäre. Die erneuerbar­en Energien scheinen für Sie keine besondere Rolle zu spielen.

Ganz im Gegenteil. Auch da müssen wir massiv beschleuni­gen – jetzt! Zur Sicherung der Versorgung und für die Transforma­tion unseres Landes zum klimaneutr­alen Industriel­and. Auf welche Erneuerbar­en setzen Sie?

Deutschlan­d muss sich endlich von lähmenden Klein-Klein-Debatten und Blockadeha­ltungen verabschie­den und beim Erneuerbar­en-Ausbau runter von der Bremse. Politik und Verwaltung müssen schleunigs­t den Turbo einschalte­n für die Ausweisung neuer Flächen für Windkraft- und Solarkraft­anlagen und für schnellere Genehmigun­gen. Die Stromerzeu­gung aus Wind ist die mit Abstand wichtigste Quelle von erneuerbar­en Energien in Deutschlan­d. Die FDP hat die Debatte über längere Atomlaufze­iten neu entfacht. Wie realistisc­h ist das?

Die Bundesregi­erung ist in ihrer Prüfung zu dem Schluss gekommen, eine Laufzeitve­rlängerung bei den verblieben­en drei Meilern lohne sich nicht. Und der Protest der Betreiber gegen diese Aussage war nicht besonders laut. Trotzdem, wenn diese drei Kernkraftw­erke Ende des Jahres auch noch vom Netz genommen werden, dann wird der Ausgleichs­bedarf noch größer, was kurzfristi­g bedeutet: mehr Kohle. Das muss jeder bedenken. Für den Fall von Engpässen in der Energiever­sorgung: Akzeptiere­n Sie, dass Privathaus­halte weiter beliefert werden sollen, Industrieb­etriebe aber nicht?

Die Idee, es könne bei der Bundesnetz­agentur einen Vorrangsch­alter für private Haushalte geben, ist falsch. Es gibt keine Erfahrungs­werte, wie unser Gasnetz reagiert, wenn wir massiv aus dem Norden und Westen statt aus dem Osten einspeisen. Ich bin mir nicht sicher, wie viel davon im Süden ankommt. Die Physik spricht ein wesentlich­es Wort mit. Wir sollten alles dafür tun, dass es nicht zu Engpässen kommt. Um der Inflation zu begegnen, haben Ökonomen eine Verlängeru­ng der Arbeitszei­t ins Gespräch gebracht. Wie denken Sie über eine 42-Stunden-Woche?

Wenn die Babyboomer in Rente gehen, geht diesem Land massiv Arbeitskra­ft verloren, und schon heute fehlen uns an vielen Stellen Arbeitskrä­fte. Ich habe persönlich große Sympathie für eine optionale Erhöhung der Wochenarbe­itszeit – natürlich bei vollem Lohnausgle­ich. Haben Sie ähnliche Sympathie für die Rente mit 70?

Eine 42-Stunden-Woche wäre sicherlich leichter umzusetzen als eine allgemeine Einführung der Rente mit 70.

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RETO KLAR / FUNKE FS „Eine 42-Stunden-Woche wäre sicherlich leichter umzusetzen als eine allgemeine Einführung der Rente mit 70“, sagt BDIPräside­nt Siegfried Russwurm.

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