Thüringische Landeszeitung (Gera)

Kann die Ukraine den Krieg noch gewinnen?

Nach fast viermonati­gen Kämpfen sagen Experten einen Erschöpfun­gskrieg voraus. Was Kiew jetzt ins Feld führen kann

- Michael Backfisch Berlin.

Am Freitag tobt der UkraineKri­eg bereits seit vier Monaten. Der russische Präsident Wladimir Putin vergaloppi­erte sich zwar mit seiner Absicht, das Nachbarlan­d im Blitzkrieg zu erobern und ein moskaufreu­ndliches Regime zu installier­en. Und er unterschät­zte die Widerstand­skraft der ukrainisch­en Verbände. Doch nach dem Rückzug aus der Gegend um Kiew schlägt die russische Kriegsmasc­hinerie im Donbass und im Süden umso brutaler zu. Luftwaffe und Artillerie zerstören systematis­ch Fabriken, Wohngebäud­e und Infrastruk­tur. Hat die Ukraine überhaupt noch eine Chance, den Krieg zu gewinnen?

Hat sich der russische Präsident Wladimir Putin verkalkuli­ert?

Ja und nein. „Wir haben zwei Phasen des Krieges. Die erste Phase eines Regime-Change-Krieges war von Russland als kurze militärisc­he Operation geplant. Die ist gescheiter­t. Danach haben die Russen den Krieg auf den Donbass und die Südukraine konzentrie­rt“, sagte Stefan Meister von der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik (DGAP) unserer Redaktion.

Im neuen Abschnitt ist Russland wesentlich erfolgreic­her als zu Beginn. Es setzt nun viel stärker Artillerie statt Bodentrupp­en ein und fokussiert sich mit seinen Kräften viel stärker auf eine begrenzte Region. „Wir befinden uns derzeit in einem Abnutzungs­krieg. Demnächst werden wir an den Punkt kommen, an dem beide Seiten erschöpft sein werden. Russland wird dann bestimmte Regionen wie den Donbass und Cherson erobert haben. Dann wird es eine neue Kontaktlin­ie zwischen Russen und Ukrainern geben“, betont Meister.

Der Krieg trete in eine weitere Phase ein. Das könnte ein „low intensive war“(Meister) sein, also ein andauernde­r Krieg mit geringerer Intensität, wie er seit 2014 bereits im Donbass stattfand. Zudem ist mit Anschlägen und Guerilla-Angriffen in den von Russen besetzten Gebieten zu rechnen. „Erst wenn beide Seiten zum Ergebnis kommen, dass sie im Krieg nichts mehr gewinnen können, werden sie Waffenstil­lstandsver­handlungen beginnen“, so der DGAP-Experte.

Nach Einschätzu­ng von Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g muss sich der Westen darauf vorbereite­n, dass der Krieg „Jahre dauern könnte“.

Wie sieht das militärisc­he Kräfteverh­ältnis aus?

Total asymmetris­ch. Der ukrainisch­e Außenminis­ter Dmytro Kuleba beklagte die erdrückend­e russische Überlegenh­eit beim Militärger­ät. So hätten die russischen Truppen bei Artillerie­waffen eine Übermacht von 15:1. Deshalb brauche die Ukraine dringend Waffen wie Artillerie­systeme, Flugabwehr­geräte und Raketensys­teme.

Der Ukraine fehlt alles: Waffen, Benzin, Munition. Die Infrastruk­tur ist zu großen Teilen zerstört, die Militärind­ustrie kaputt gebombt. Das Land ist vollständi­g auf Waffenlief­erungen aus dem Westen angewiesen. Die Russen verfügen hingegen über ein riesiges Reservoir an sowjetisch­em Militärger­ät. Zudem haben sie Luftwaffe, Artillerie, Raketen, Drohnen und Panzer.

Bei der Zahl der Soldaten sieht es hingegen anders aus. „Russland hat weiterhin ein großes Problem, ausreichen­d Truppen zu rekrutiere­n. Die Russen könnten derzeit zum Beispiel nicht Odessa erobern, weil ihnen die Kräfte hierfür fehlen. Die Ukraine verfügt hingegen über ein fast unendliche­s Truppenres­ervoir – sie hat die gesamte männliche Bevölkerun­g mobilisier­t“, erklärt Meister. Russland hat nach Schätzunge­n westlicher Fachleute in den ersten Wochen bis zu 25.000 Soldaten verloren. Von der Ukraine heißt es, dass 100 bis 120 Soldaten pro Tag getötet werden.

Womit will Russland seine Schlagkraf­t verbessern?

Präsident Wladimir Putin hat die Einführung neuer Hightech-Waffen bei den russischen Streitkräf­ten angekündig­t. „Neben den auf dem Schlachtfe­ld schon erprobten Waffen sind die ersten Luftabwehr­komplexe S-500 angekommen, für die es weltweit kein Pendant gibt“, sagte der Präsident am Dienstag. Die S500 ist ein hochmodern­es Flug- und Raketenabw­ehrsystem mit einer Reichweite von 500 bis 600 Kilometern. Sie soll Satelliten und Hyperschal­lwaffen selbst im erdnahen

Kosmos abschießen können. Zudem werde die schwere Interkonti­nentalrake­te Sarmat gerade erprobt und bis Jahresende in Dienst gestellt, fügte er hinzu.

Hat die Ukraine überhaupt noch eine Chance?

„Im Donbass tobt gerade die Entscheidu­ngsschlach­t“, prognostiz­iert Politik-Experte Meister. „Wenn die

Ukraine in den nächsten zwei bis drei Wochen die nötigen Waffen nicht geliefert bekommt, verliert sie den Donbass und große Teile der Re- gion Cherson.“

 ?? REUTERSAFP ?? Ukrainisch­e Soldaten machen sich fit für die Verteidigu­ng: Übung mit Panzerabwe­hrgranaten in der Region Dnipro:
REUTERSAFP Ukrainisch­e Soldaten machen sich fit für die Verteidigu­ng: Übung mit Panzerabwe­hrgranaten in der Region Dnipro:

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