Thüringische Landeszeitung (Gera)
Kann die Ukraine den Krieg noch gewinnen?
Nach fast viermonatigen Kämpfen sagen Experten einen Erschöpfungskrieg voraus. Was Kiew jetzt ins Feld führen kann
Am Freitag tobt der UkraineKrieg bereits seit vier Monaten. Der russische Präsident Wladimir Putin vergaloppierte sich zwar mit seiner Absicht, das Nachbarland im Blitzkrieg zu erobern und ein moskaufreundliches Regime zu installieren. Und er unterschätzte die Widerstandskraft der ukrainischen Verbände. Doch nach dem Rückzug aus der Gegend um Kiew schlägt die russische Kriegsmaschinerie im Donbass und im Süden umso brutaler zu. Luftwaffe und Artillerie zerstören systematisch Fabriken, Wohngebäude und Infrastruktur. Hat die Ukraine überhaupt noch eine Chance, den Krieg zu gewinnen?
Hat sich der russische Präsident Wladimir Putin verkalkuliert?
Ja und nein. „Wir haben zwei Phasen des Krieges. Die erste Phase eines Regime-Change-Krieges war von Russland als kurze militärische Operation geplant. Die ist gescheitert. Danach haben die Russen den Krieg auf den Donbass und die Südukraine konzentriert“, sagte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) unserer Redaktion.
Im neuen Abschnitt ist Russland wesentlich erfolgreicher als zu Beginn. Es setzt nun viel stärker Artillerie statt Bodentruppen ein und fokussiert sich mit seinen Kräften viel stärker auf eine begrenzte Region. „Wir befinden uns derzeit in einem Abnutzungskrieg. Demnächst werden wir an den Punkt kommen, an dem beide Seiten erschöpft sein werden. Russland wird dann bestimmte Regionen wie den Donbass und Cherson erobert haben. Dann wird es eine neue Kontaktlinie zwischen Russen und Ukrainern geben“, betont Meister.
Der Krieg trete in eine weitere Phase ein. Das könnte ein „low intensive war“(Meister) sein, also ein andauernder Krieg mit geringerer Intensität, wie er seit 2014 bereits im Donbass stattfand. Zudem ist mit Anschlägen und Guerilla-Angriffen in den von Russen besetzten Gebieten zu rechnen. „Erst wenn beide Seiten zum Ergebnis kommen, dass sie im Krieg nichts mehr gewinnen können, werden sie Waffenstillstandsverhandlungen beginnen“, so der DGAP-Experte.
Nach Einschätzung von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg muss sich der Westen darauf vorbereiten, dass der Krieg „Jahre dauern könnte“.
Wie sieht das militärische Kräfteverhältnis aus?
Total asymmetrisch. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba beklagte die erdrückende russische Überlegenheit beim Militärgerät. So hätten die russischen Truppen bei Artilleriewaffen eine Übermacht von 15:1. Deshalb brauche die Ukraine dringend Waffen wie Artilleriesysteme, Flugabwehrgeräte und Raketensysteme.
Der Ukraine fehlt alles: Waffen, Benzin, Munition. Die Infrastruktur ist zu großen Teilen zerstört, die Militärindustrie kaputt gebombt. Das Land ist vollständig auf Waffenlieferungen aus dem Westen angewiesen. Die Russen verfügen hingegen über ein riesiges Reservoir an sowjetischem Militärgerät. Zudem haben sie Luftwaffe, Artillerie, Raketen, Drohnen und Panzer.
Bei der Zahl der Soldaten sieht es hingegen anders aus. „Russland hat weiterhin ein großes Problem, ausreichend Truppen zu rekrutieren. Die Russen könnten derzeit zum Beispiel nicht Odessa erobern, weil ihnen die Kräfte hierfür fehlen. Die Ukraine verfügt hingegen über ein fast unendliches Truppenreservoir – sie hat die gesamte männliche Bevölkerung mobilisiert“, erklärt Meister. Russland hat nach Schätzungen westlicher Fachleute in den ersten Wochen bis zu 25.000 Soldaten verloren. Von der Ukraine heißt es, dass 100 bis 120 Soldaten pro Tag getötet werden.
Womit will Russland seine Schlagkraft verbessern?
Präsident Wladimir Putin hat die Einführung neuer Hightech-Waffen bei den russischen Streitkräften angekündigt. „Neben den auf dem Schlachtfeld schon erprobten Waffen sind die ersten Luftabwehrkomplexe S-500 angekommen, für die es weltweit kein Pendant gibt“, sagte der Präsident am Dienstag. Die S500 ist ein hochmodernes Flug- und Raketenabwehrsystem mit einer Reichweite von 500 bis 600 Kilometern. Sie soll Satelliten und Hyperschallwaffen selbst im erdnahen
Kosmos abschießen können. Zudem werde die schwere Interkontinentalrakete Sarmat gerade erprobt und bis Jahresende in Dienst gestellt, fügte er hinzu.
Hat die Ukraine überhaupt noch eine Chance?
„Im Donbass tobt gerade die Entscheidungsschlacht“, prognostiziert Politik-Experte Meister. „Wenn die
Ukraine in den nächsten zwei bis drei Wochen die nötigen Waffen nicht geliefert bekommt, verliert sie den Donbass und große Teile der Re- gion Cherson.“