Thüringische Landeszeitung (Gera)
„Die Russen können gerne kommen“
Putins Armee hat die Ukraine überfallen und bedroht Moldau. In der abtrünnigen Region Transnistrien fürchten sich die Menschen davor nicht
Der junge Mann in seiner abgetragenen Jogginghose braucht nur wenige Bewegungen, dann hat er den Lenin auch schon erklommen. In seiner linken Hand hält er ein Schleifgerät, mit seiner rechten streicht er über die Glatze des kommunistischen Revolutionärs. Dann beginnt er zu schleifen, die Lenin-Statue wird auf Hochglanz gebracht. „Der Lenin wird heute von unseren Stadtmitarbeitern frisch frisiert“, scherzt Maria Choroshunova. Die etwa zehn Meter hohe Statue steht in einem Park in Bender, der zweitgrößten Stadt in Transnistrien, das unmittelbar an die Ukraine und an die Republik Moldau grenzt. „So etwas seht ihr nur hier. Willkommen in einem Land, das es offiziell gar nicht gibt“, so begrüßt Choroshunova die Besucher aus dem Ausland. Die 39-Jährige organisiert seit mehreren Jahren touristische Führungen durch die prorussische Separatistenrepublik, die offiziell von keinem Staat weltweit anerkannt wird.
Transnistrien ist eine Region, die sich seit 1992 in einem Dornröschenschlaf befindet. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat sich das Gebiet von der Republik Moldau losgelöst und sich für unabhängig erklärt. „Weil man sich Russland näher fühlte als Moldau, das sich in Richtung Rumänien orientierte“, fasst es Choroshunova zusammen. Die Abspaltung erfolgte damals nach einem kurzen, aber blutigen Konflikt mithilfe russischer Soldaten, die immer noch als sogenannte Friedensstifter in Transnistrien stationiert sind – etwa 1500 sind es nach offiziellen Angaben heute. Völkerrechtlich gehört Transnistrien aber noch zur Republik Moldau.
Choroshunova verdient ihr Geld damit, ausländische Touristen durch die Separatistenrepublik zu führen, sie zeigt ihnen die unzähligen Lenin-Büsten und die sowjetischen Kriegspanzer, die immer noch überall in Transnistrien stehen. Aus aller Welt würden die Menschen kommen, um „eine Zeitreise in die Sowjetunion zu erleben“, wie es die 39-Jährige beschreibt. Vor allem Deutsche und Amerikaner seien an Führungen interessiert.
Die Reiseführerin ist an diesem heißen Junitag bei bester Laune, und das, obwohl keine 100 Kilometer weiter der Krieg in der Ukraine tobt. Manchmal, so erzählt sie in einem fast perfekten Englisch, höre man in Transnistrien ganz genau, wenn die russischen Soldaten Odessa beschießen. Die ukrainische Küstenstadt ist nur eine Stunde Fahrzeit entfernt. „Das klingt wie ein dumpfes Grollen, als ob irgendwo ein Feuerwerk explodieren würde.
Manchmal sieht man schwarze Rauchwolken in der Ferne aufsteigen“, erzählt Choroshunova.
Transnistrien hat seit der Abspaltung eigentlich alles, was ein Land benötigt. Dazu gehören eine eigene Verfassung, ein Parlament, ein Präsident, ein Militär und sogar eine eigene Währung. Dennoch wird das Gebiet mit seinen rund 500.000 Einwohnern von keinem anderen Land weltweit anerkannt, auch nicht von seiner Schutzmacht Russland.
„Dass wir wirtschaftlich und politisch überleben, verdanken wir in erster Linie Russland“, davon ist Oleg Prednikow überzeugt. Der 52Jährige arbeitet als Taxifahrer in Tiraspol und ist einer der wenigen Menschen, die öffentlich über die politische Lage im Land sprechen möchten. „Wir kriegen Gas und unsere Renten von Moskau bezahlt, wer sonst würde das für uns tun?“, fragt Prednikow. Tatsächlich subventioniert Russland den schmalen Landstrich mit Gas fast zum Nulltarif und übernimmt den Großteil der Renten. Was Russland dafür im Gegenzug bekommt? „Loyalität!“, antwortet der Taxifahrer mit voller Inbrunst und deutet auf die russischen Flaggen, die von allen öffentlichen Gebäuden in Transnistrien wehen.
Dass der Krieg in der Ukraine die Spannungen in Transnistrien ansteigen lässt, zeigen verstärkte Kontrollen an den Hauptstraßen. Polizei und Militär bewachen öffentliche Gebäude. Zum Teil patrouillieren russische Soldaten auf der Straße, mit Kalaschnikows auf dem Rücken. „Bitte bloß nicht fotografieren“, ruft Choroshunova den Touristen zu, als sie an den Soldaten vorbeigehen. In Transnistrien dürfen keine militärische Anlagen fotografiert werden. „Da verstehen sie wirklich keinen Spaß und können euch dafür verhaften“, warnt die Reiseführerin.
Seit es vor gut einem Monat mehrere rätselhafte Explosionen gegeben hat, bei denen unter anderem zwei Funktürme zerstört wurden, sind die Sicherheitsbehörden in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Die transnistrische Regierung, die sich nur selten öffentlich äußert, macht für die Explosionen ukrainische Kämpfer verantwortlich. Kiew dagegen beschuldigt Russland, Unruhe im Rückraum der Ukraine zu stiften, und warnt vor einer Ausweitung des Krieges.
Trotz des Krieges im Nachbarland scheint die Russlandtreue in Transnistrien weiterhin Bestand zu haben. Zum russischen Nationalfeiertag, der am 12. und 13. Juni gefeiert wurde, wurden überall Russlandflaggen aufgehängt. „Seit Jahrzehnten warten die Menschen hier darauf, dass Moskau uns offiziell anerkennt und wir auch Teil der Russischen Föderation werden können, so wie die Krim etwa“, sagt Maria Choroshunova und verweist dabei auf ein Referendum von 2006. Nach transnistrischer Darstellung sprachen sich damals 97,1 Prozent der Wählerinnen und Wähler für den Anschluss an Russland aus.
Dass der Krieg nach Transnistrien überschwappen könnte, davor hat Choroshunova keine Angst: „Schaut euch um, hier ist doch schon Kleinrussland. Die Russen können also gerne kommen, wir haben keine Angst vor ihnen“, sagt die 39-Jährige. Den Einmarsch in die Ukraine verurteilt sie trotzdem:
„Wir sind mit der Ukraine als Nachbarn eng verbunden, niemand will hier einen Krieg.“Rund ein Viertel der Einwohner hat ukrainische Wurzeln. Doch das Narrativ, dass die Ukraine Russland provoziert habe, ist ebenso Teil der öffentlichen Wahrnehmung. „Die Ukraine ist an einer Deeskalation nicht interessiert, auch die Nato und die USA nicht“, meint Oleg Prednikow. Sowieso
wisse ja keiner genau, was dort wirklich passiere.
In der Republik Moldau schaut man derweil angespannt in Richtung Tiraspol, gilt der Konflikt doch seit 30 Jahren als eingefroren. Moldaus Präsidentin Maia Sandu setzt sich deshalb dafür ein, russische Soldaten in Transnistrien durch zivile OSZE-Beobachter zu ersetzen. „Ihre Präsenz verletzt unsere Souveränität und Unabhängigkeit“, klagte Sandu vor dem Europäischen Parlament in Brüssel. Der Kreml ließ daraufhin mitteilen, dass am Status Transnistriens „nicht zu rütteln ist“.
Wir sind mit der Ukraine als Nachbarn eng verbunden, niemand will hier einen Krieg. Maria Choroshunova, Reiseführerin in Transnistrien