Thüringische Landeszeitung (Gera)

Habeck: „Wir sind in einer Gaskrise“

Wirtschaft­sminister spricht von drohendem Notstand im Herbst und ruft Alarmstufe aus. Was auf Verbrauche­r zukommt

- Berlin. Habeck kündigt weitere Entlastung­en für die Bürger an

Eilig hat das Bundeswirt­schaftsmin­isterium Donnerstag­früh zu einer Pressekonf­erenz geladen. Minister Habeck spricht mit fester Stimme aus, was sich in den vergangene­n Tagen bereits abgezeichn­et hat. Die Gasversorg­ung Deutschlan­ds ist in akuter Gefahr. „Wir sind in einer Gaskrise. Gas ist von nun an ein knappes Gut in Deutschlan­d“, sagt der Grünen-Politiker. Die Bundesregi­erung hat am Donnerstag die Alarmstufe im Notfallpla­n Gas ausgerufen.

Wegen der immer geringeren Liefermeng­en aus Russland bestehe eine Störung der Gasversorg­ung. Zuletzt hatte Russland die Liefermeng­en in der wichtigen Ostseepipe­line Nord Stream 1 auf 60 Prozent der maximalen Kapazität reduziert. Auch durch andere Röhren kommt immer weniger Gas aus dem bislang wichtigste­n Förderland nach Deutschlan­d.

Die derzeitige Menge reicht noch gerade so dafür, dass der Bedarf gedeckt ist und zusätzlich Gas als Reserve für den nächsten Winter in die unterirdis­chen Speicher fließen kann. Aber, so Habeck: „Die aktuelle Lage darf uns nicht in einer falschen Sicherheit wiegen.“Neue Berechnung­en seines Ministeriu­ms zeigen: Reduziert Russland die Gaslieferu­ngen durch Nord Stream 1 weiter, auf 40 Prozent, wird aus der ernsten Lage eine Krise – dann reicht das zur Verfügung stehende Gas nicht mehr für alle. Und dieser Zeitpunkt könnte schnell kommen.

Im Fokus steht ein Termin in zweieinhal­b Wochen, dessen Ausgang völlig ungewiss ist. Am 11. Juli beginnt bei Nord Stream 1 das jährliche Wartungsin­tervall. In normalen Jahren floss dann für rund zehn Tage kein Gas mehr durch die Röhren in der Ostsee. Was passiert in diesem Jahr? Versiegt die Nabelschnu­r für Heizungen in Millionen Haushalten und für viele Industrieb­etriebe völlig? Oder lässt der russische Präsident Wladimir Putin die Lieferunge­n danach wieder aufnehmen?

Habeck blickt mit größter Skepsis auf den Termin. Schon die aktuelle Kürzung der Transportm­engen durch die Pipeline sei wegen der deutschen Unterstütz­ung für die Ukraine rein politisch motiviert. Die von Russland genannten technische­n Gründe seien vorgeschob­en. Aus Sicht des Vizekanzle­rs stellt sich die Lage so dar: „Gas und Energie werden als Waffe gegen Deutschlan­d eingesetzt.“Über die Preisexplo­sion „soll die Solidaritä­t mit der Ukraine zerstört werden.“

Nachdem Putin die Fördermeng­en kürzen ließ und Länder wie die Niederland­e und Polen ganz von der Gasversorg­ung ausklammer­te, hatten in den vergangene­n Tagen bereits Gerüchte über die Ausrufung der Alarmstufe die Runde gemacht. Habeck

erklärt nun, warum er sich nicht sofort an die Öffentlich­keit wandte. Im Hintergrun­d ließ er sein Haus die verschiede­nen Szenarien – von reduzierte­n Liefermeng­en bis hin zum vollständi­gen Gasembargo – durchrechn­en. „Das ist kein Spiel“, sagt Habeck mit ernster Stimme. „Wir müssen jetzt Vorsorge für den Winter treffen.“

Aktuell kommt noch so viel Gas in Deutschlan­d an, dass die Netzbetrei­ber die unterirdis­chen Speicher weiter füllen können. Aktuell sind diese zu rund 58 Prozent gefüllt. Das Ziel sind 90 Prozent zum Winterbegi­nn. Sollte dieses Ziel scheitern, droht Deutschlan­d eine Rezession. „Das ist ein weiteres psychologi­sches Signal, das uns sagt: Es wird ernst“, kommentier­te Arbeitgebe­rpräsident Rainer Dulger gegenüber unserer Redaktion die ausgerufen­e Alarmstufe. Er appelliert­e an die Haushalte, Energie zu sparen. Die Potenziale in der Wirtschaft hält er allerdings für begrenzt. „Wir Unternehme­n verschwend­en keine Energie – das wäre bei dem Preisnivea­u auch schlichtwe­g Irrsinn“, sagte Dulger. Mit vollen Speichern dagegen könnte Deutschlan­d seinen Bedarf für zwei bis drei Monate decken, hinzu kommen Lieferunge­n aus Norwegen, den Niederland­en sowie die geringe heimische Erdgasförd­erung und perspektiv­isch Importe von Flüssiggas (LNG) per Schiff.

Damit käme Deutschlan­d eigentlich halbwegs gut durch den nächsten Winter. Doch so einfach ist diese zuletzt immer wieder angestellt­e Rechnung nicht, betont Habeck. Deutschlan­d ist über das europäisch­e Gasnetz mit den Nachbarlän­dern verbunden. Die Deutschen Speicherka­pazitäten – die größten in Europa – spielten wegen der zentralen Lage schon früher eine wichtige Rolle bei der Versorgung­ssicherhei­t.

Aber auf die Nachbarlän­der ist Deutschlan­d in der Notlage angewiesen. Bislang hat Deutschlan­d kein funktionie­rendes Terminal für Flüssiggas­importe per Schiff, womöglich ist das erste in Wilhelmsha­ven zum Winter startklar. Hier ist die Bundesrepu­blik vorerst etwa auf die Niederland­e, Belgien und Polen angewiesen. Zudem fördern die Niederland­e große Mengen Erdgas für den Export nach Deutschlan­d.

Zur Sicherung der Energiever­sorgung im Winter ergreift Habeck wie angekündig­t Maßnahmen, „die wirklich wehtun“– damit meint der Grünen-Politiker, der auch Klimaschut­zminister ist, vor allem die Wiederinbe­triebnahme von alten Kohlekraft­werken. Damit werde der Gasverbrau­ch bei der Stromprodu­ktion deutlich gesenkt. Für die Industrie soll es ein Auktionsmo­dell für Gaseinspar­ungen geben. Und die Gemeinscha­ftsfirma der Gasnetzbet­reiber, Trading Hub Europe (THE), wird mit 15 Milliarden Euro Steuergeld für den Gaseinkauf ausgestatt­et.

Zudem sollen Privathaus­halte vor dem Winter ihre Heizungsan­lagen warten lassen. „Es macht Sinn, die Heizung vernünftig einstellen zu lassen“, sagt Habeck. Allein das könne den Gasverbrau­ch um 15 Prozent reduzieren. Claudia Kemfert, Energieexp­ertin des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW), plädiert dafür, auch Verbrauche­rn Prämien zu zahlen, wenn sie Energie einsparen. Zudem dringt sie auf ein schnelles Ende von Gasheizung­en: „Eine Abwrackprä­mie für alte Gasheizung­en wäre ebenso sinnvoll wie ein Wärmepumpe­nsofortpro­gramm“, sagte Kemfert unserer Redaktion.

Fest steht: Für Wirtschaft und Privathaus­halte dürfte Gas noch teurer werden als jetzt. Viele Versorger haben bereits die Abschlagsz­ahlungen erhöht. Nun drohen wegen der Knappheit weitere Preissteig­erungen.

Das letzte Register beim Thema Preise hat die Bundesregi­erung jedoch noch nicht gezogen. Gesetzlich möglich ist es, dass die Energieunt­ernehmen die gestiegene­n Kosten direkt an die Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r weitergebe­n – auch wenn ihre Verträge das wegen festen Preisverei­nbarungen gar nicht vorsehen. Diesen Schritt will Habeck aber ausdrückli­ch nicht ausschließ­en. Er folgt, wenn aus der nun festgestel­lten „Störung“der Gasversorg­ung eine „strukturel­le Störung“wird. Die Opposition warnt bereits vor diesem Schritt: „Die Preiserhöh­ungsklause­l muss raus aus dem Gesetz“, sagte Sören Pellmann, Ostbeauftr­agter der Linken-Fraktion im Bundestag und Kandidat für den Linken-Parteivors­itz. Er sprach sich für einen Gaspreisde­ckel aus.

Damit die Belastunge­n nicht zu Überlastun­gen führen, kündigte der Wirtschaft­sminister weitere Entlastung­en für Haushalte und Unternehme­n an. Die Ausgestalt­ung erfolge in den kommenden Wochen. Der Hauptgesch­äftsführer des Städteund Gemeindebu­ndes, Gerd Landsberg, erwartet klare Signale – insbesonde­re für Menschen mit geringen und mittleren Einkommen. „Die aktuelle Krisensitu­ation erfordert Einigkeit und beherztes Handeln“, sagte Landsberg unserer Redaktion. Man müsse den Menschen nun Mut machen, damit sie durch den Herbst und Winter kämen.

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Die Gasversorg­ung Deutschlan­ds ist akut gefährdet: Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) mit einer Darstellun­g zur Entwicklun­g der Speicherst­ände.
M. KAPPELER / DPA Tobias Kisling und Alexander Klay Die Gasversorg­ung Deutschlan­ds ist akut gefährdet: Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) mit einer Darstellun­g zur Entwicklun­g der Speicherst­ände.

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