Thüringische Landeszeitung (Gera)
Mit neuer Doppelspitze aus der Krise
Linke-Bundesparteitag in Erfurt verurteilt Russlands Angriffskrieg gegen Ukraine
Die Linke sucht mit einer neuen Doppelspitze und nachgeschärften Positionen den Weg aus ihrer Krise. Ein Bundesparteitag in Erfurt bestätigte am Wochenende die Vorsitzende Janine Wissler im Amt – trotz Wahlniederlagen und Streits bekommt die 41-Jährige eine zweite Chance. Sie erhielt 57,5 Prozent der Stimmen. Der Europapolitiker Martin Schirdewan wurde mit 61,3 Prozent zum neuen Co-Parteichef gewählt. Die Delegierten schärften zudem die Linie der Partei gegenüber Russland und verlangten ehrgeizigere Klimaziele.
„Wir haben verstanden als Linke“, sagte Schirdewan (46) nach seiner Wahl. „Wir sind wieder da.“Stärker als bisher werde sich die Linke um Themen wie explodierende Energie- und Lebensmittelpreise und hohe Mieten kümmern. Die Linke hatte bei der Bundestagswahl und bei den Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen sehr schlecht abgeschnitten. Viele Parteivertreter sprechen von einer Existenzkrise. Am Sonntag zog Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch eine positive Bilanz: „Der Parteitag hat eine Tür aufgestoßen.“Doch solche Treffen allein veränderten nichts, sondern die künftige Arbeit: „Solidarität nach innen und Attacke nach außen, ab Montag.“
Nach sehr langen Debatten stimmten die Delegierten mehrheitlich für eine nachgeschärfte Linie zu Russland und zur Nato. Dabei setzten sich Wissler und der Parteivorstand gegen eine Gruppe um die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht durch. Diese wollte die Mitverantwortung der Nato im Vorlauf zum Ukraine-Krieg betonen. Für die Linke war das ein Grundsatzstreit. Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar hatten viele in der Partei großes Verser ständnis für russische Interessen geäußert. Das gültige Parteiprogramm verlangt die Auflösung der Nato, die durch ein „kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands“ersetzt werden soll. Von dieLinie setzt sich der neue Beschluss ein Stück weit ab.
Die Fassung, für die auch Wissler geworben hatte, verurteilt den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine scharf. Zugleich kritisiert auch dieser Antrag die Nato für ein „Denken in geopolitischen Einflusszonen und ein Wettrüsten insbesondere zwischen der Nato, Russland und China“. Das 100-Milliarden-EuroProgramm für die Bundeswehr wird verurteilt, Waffenlieferungen an die Ukraine werden abgelehnt.
Schon am Samstag votierten die Delegierten für eine drastische Verschärfung des Klimaziels: Deutschland soll nach dem Willen der Partei bereits 2035 klimaneutral sein, also keine zusätzlichen Treibhausgase in die Atmosphäre blasen. Bisher lautet das Ziel der Bundesregierung 2045. Notwendig sei das größte Investitionsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik: jährlich allein 20 Milliarden Euro für die Energiewende.
Stärker als bisher wird sich die Linke um die Brot-und-Butter-Themen kümmern, die die Menschen bewegen. Martin Schirdewan, neuer Co-Parteivorsitzender der Linken
Da sitzt er in der zweiten Bankreihe, in schwarzer Hose und schwarzem Polohemd, und probiert ein vorsichtiges Lächeln. Ein gutes Dutzend Kameraleute und Fotografen haben ihre Objektive auf ihn gerichtet; die an langen Stäben befestigten Mikrofone hängen wie Tentakel über seinem Kopf.
Martin Schirdewan, fast 47 Jahre alt, Thüringer Europaabgeordneter und Chef der linken Fraktion im EU-Parlament, wartet auf die Bestätigung, dass er die Wahl zum Bundesvorsitzenden der Linken gewonnen hat. Um die tausend Delegierte, Gäste, Journalisten und Neugierige warten in der bunt ausgeleuchteten Erfurter Messehalle mit ihm.
Und das dauert. Die Linke hat, um elektronisch abstimmen zu können, die Laptops oder Tablets der Delegierten per WLAN zusammenschalten lassen. Dies erweist sich als gleichermaßen störanfällig wie langwierig, weshalb Schirdewan nun lange Minuten möglichst cool in die Kameras schauen muss. Es fällt ihm sichtlich schwer.
Aber was ist schon leicht in dieser Linkspartei. Spätestens seit sie im vergangenen Herbst bei der Bundestagswahl auf 4,9 Prozent abstürzte und nur über den Umweg der drei Direktmandate wieder eine Fraktion bilden konnte, war vieles nur noch Krampf und Kampf. Lager stand gegen Lager, Parteifunktionäre gegen Abgeordnete, Landesverband gegen Landesverband.
Die nachfolgenden Landtagswahlen wurden zur Katastrophenserie. Die Bundesvorsitzende Janine Wissler geriet nach Missbrauchsvorwürfen gegen ihren Ex-Partner ins Zentrum eines parteiinternen Sexismus-Skandals. Und ihre thüringische Co-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow trat mal eben zurück. Spätestens damit war der Neustart, den die beiden Frauen im Pandemiewinter 2021 ausgerufen hatten, komplett gescheitert.
Und so hat sich die Partei hier in Erfurt versammelt, um in drei Tagen alle Probleme auf einmal zu lösen: mit der Neuwahl des Vorstands, mit Strukturreformen, mit einer MetooDebatte und mit einem Kompromiss in der Krieg-und-Frieden-Frage, die zuletzt die Linke zerriss.
Zumindest in Teilen funktioniert der Plan besser, als viele in der Partei befürchtet hatten. Der Jubel zur Eröffnungsrede Wisslers am Freitag zeigt, dass die Mehrheit der gut 500 Delegierten bereit ist, der Vorsitzenden eine zweite Chance zu geben. Derweil versucht der parteieigene Ministerpräsident Bodo Ramelow, seine Pro-Waffen-für-die-UkraineHaltung zumindest rhetorisch halbwegs in Übereinstimmung mit der Anti-Waffen-Meinung der Partei zu bringen – was die Mehrheit der Delegierten zumindest hinnimmt.
Der Aufruf zur Geschlossenheit, der in fast keiner Rede fehlt: Er scheint zu verfangen.
Gegen den russischen Angriff und gegen Waffenlieferung
Nach der Generaldebatte und einer kollektiven Selbstreflektion zum Thema Sexismus, die bis in den späten Freitagabend andauert, wird am Samstag über den Ukraine-Krieg verhandelt. Der Bundesvorstand hat einen Leitantrag vorgelegt, der versucht, das linke Dilemma aufzudröseln. Erstens, heißt es darin, bleibe es bei der Kritik an Nato und Osterweiterung. Zweitens rechtfertigten Fehler des Westens aber in keiner Weise den russischen Angriffskrieg, der schärfstens zu verurteilen sei. Trotzdem dürften, drittens, keine Waffen geliefert werden.
Pazifistisch gegen Putin: So ungefähr lautet der Formelkompromiss.
Die Begründungen dafür, einem überfallenen Land die Hilfe im Verteidigungskrieg zu verweigern, variieren von Redner zu Redner. Während einige pauschal erklären, dass Waffen immer schlecht seien, wiederholt Gregor Gysi sein Argument, dass Deutschland aufgrund seiner historischen Schuld ein Sonderfall sei. Die Ukraine, so die indirekte Schlussfolgerung, müsse sich ihre Waffen halt woanders besorgen.
Der einstige Vorsitzende der SED-PDS, die zu PDS, Linkspartei und schließlich zur Linken wurde, sieht sein Lebensprojekt in einer „existenziellen Krise“. „Entweder wir retten unsere Partei, oder wir versinken in Bedeutungslosigkeit“, ruft er. Das „Klima der Denunziation“müsse enden: „Unser Streit ist bereits in den Medien, bevor er überhaupt stattgefunden hat.“
Die Partei sollte ihren „Zweck für die Gesellschaft“definieren und dürfe nicht mehr „Laden für die 1000 kleinen Dinge“sein, sagt Gysi. Alle „unwesentlichen Fragen“seien beiseitezuschieben.
Wesentlich für ihn, sagt er, seien Arbeitnehmerinteressen, Sozialfragen, Klimapolitik, Gleichberechtigung, Frieden, Ostdeutschland – und unwesentlich, zum Beispiel, das Gender-Sternchen. Das „gehobene Bürgertum“, ruft er, wolle die Rechtschreibung ändern: „Ich will die Verhältnisse verändern.“
Die Reaktion im Publikum wirkt für Gysi-Verhältnisse verhalten. „Eine Frechheit“sei die Bemerkung zum Gendern gewesen, ruft gar eine junge Frau ins Saalmikrofon.
Dennoch, die Situation eskaliert nicht, ebenso wenig wie der Streit zur Ukraine. Die Änderungsanträge, von denen die wichtigsten aus dem Lager Sahra Wagenknechts stammen, kommen nicht durch. Die einstige Bundestagsfraktionschefin kann nicht widersprechen, da sie gar nicht angereist ist. Eine mögliche Infektion, heißt es.
Auch die wichtige Satzungsänderung, die den Bundesvorstand um etwa ein Drittel reduziert, wird ohne größeres Gewese angenommen. Es folgen die Wahlen der Vorsitzenden, allesamt mit Kampfkandidaturen. Wissler wird mit 57 Prozent als Vorsitzende bestätigt; ihre Gegenbewerberin Heidi Reichinnek erhält knapp 36 Prozent. Dies ist wohl das, was gerne in der Politik als „ehrliches Ergebnis“bezeichnet wird.
Ein halbes Dutzend Gegenkandidaten
Gegen Martin Schirdewan treten gleich sechs Konkurrenten an, darunter der Leipziger Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann. Schließlich, es ist Samstag, kurz vor 17 Uhr, wartet der Europaabgeordnete von Kameras umringt auf das Ergebnis und auf einen, ja, auch historischen Moment. Immerhin soll er, der Enkel des SED-Politbüromitglieds Karl Schirdewan, Chef der SED-Nachfolgepartei werden.
Schirdewan hat bloß eine mittelprächtige Rede gehalten – aber die politische Arithmetik auf seiner Seite. Als sogenannter ostdeutscher Reformer repräsentiert er gemeinsam mit der westdeutschen Marxistin Wissler die Breite der Partei. Pellmann hingegen gilt als irrlichternder Wagenknechtianer.
Endlich wird das Ergebnis verkündet: 61 Prozent für Schirdewan. Pellmann kommt auf 31 Prozent.
Für das Lager Wagenknechts ist dies eine Niederlage. Die Thüringer Bundestagsabgeordnete Martina Renner, die bisher stellvertretende Parteivorsitzende war, wirkt hingegen sehr zufrieden. Denn auch wenn der Berliner Schirdewan eher aus taktischen Gründen dem Thüringer Verband angehört: Die Landespartei des einzigen Ministerpräsidenten bleibt mit ihrem Ansatz „sozialistischer Realpolitik“in der Spitze vertreten. Zumal, auch der Ukraine-Konsensantrag, mit dem sich ein Bodo Ramelow durchaus arrangieren kann, wird am Sonntag final angenommen.
Und Susanne Hennig-Wellsow? Sie war so frei, dem Parteitag in ihrer Heimatstadt fernzubleiben.