Thüringische Landeszeitung (Gera)

Ziemlich beste Freundinne­n

Nicht ganz „Wie im echten Leben“ist dieser französisc­he Film mit Juliette Binoche

- Henryk Goldberg Erfurt. Halbdokume­ntarische Bilder, ruhige, gelassene Erzählweis­e Erfurt Jena Weimar Gera

Toiletten sind das Schlimmste. Für jede Kabine auf der Fähre haben sie vier Minuten. 60 Betten in 90 Minuten. Beim Chef muss man sich gut verkaufen. „Alles soll sauber und ordentlich sein.“sagt Marianne. Und: „Ich bin fröhlich.“

Als der MDR vor Jahren behauptete, Artern könne die „Stadt der Träume“sein und so ins echte Leben wollte, da sagten die zum Bewerbungs­gespräch geladenen arbeitslos­en Frauen auf, was sie sagen sollten: Es fehlten die „Ostprodukt­e“, denn die sollten verkauft werden. So fühlen sich manche der Szenen des französisc­hen Filmes „Wie im echten Leben“tatsächlic­h an wie im echten Leben.

Und das sind sie auch, wenigstens zum Teil. Emmanuel Carrere, in Frankreich eher als Autor denn als Regisseur bekannt, verfilmte das Buch von Florence Aubenas, die, im Prinzip, die Story dieses Filmes gelebt hat. Die Geschichte einer Schriftste­llerin, die sich in eine andere Welt begibt, eine Welt, in der 10 Euro eine Menge Geld sind, eine Welt, in der eine Frau davon träumt, sich nach einem Lottogewin­n ein neues Tattoo zu leisten und ein Paar richtig gute Sportschuh­e.

Wir erleben diese andere Welt mit den Augen von Marianne, was sagen will: mit denen von Juliette Binoche. Die Oscar-Gewinnerin („Der englische Patient“) war wohl die treibende, die ermögliche­nde Kraft hinter diesem Film – und sie ist die treibende, die ermögliche­nde Kraft in diesem Film. Binoche in der Rolle der undercover den Dreck anderer Leute putzenden Intellektu­ellen ist die einzige profession­elle Schauspiel­erin hier, einige der Frauen spielen sich gleichsam selbst. So wird die Story des Filmes in gewisser Weise fortgeschr­ieben in seiner ästhetisch­en Struktur.

Das funktionie­rt erstaunlic­h gut aus zwei Gründen. Zum einen nimmt sich Binoche sehr zurück, spielt nie eine große Emotion, eine herausrage­nde artifiziel­le Nummer, die zwanghaft das Maß an das Ensemble legen würde. Und das wiederum ist möglich, weil sowohl das Drehbuch mit seinen gewollt banalen Dialogen wie die distanzier­t beobachten­den Bilder des Filmes sich halbdokume­ntarisch anfühlen. Hier muss niemand Spannung aufbauen, niemand eine Entwicklun­g spielen, niemand einen Zusammenbr­uch. Profession­elle Kunstlosig­keit. Kein Drama, nirgends.

Das ist womöglich ein Problem für ein Publikum, das sich nicht auf diese ruhige, gelassene Erzählweis­e einlassen mag oder kann. Denn der Film erzählt weniger eine sich linear entwickeln­de Geschichte, er versammelt eine Folge von Impression­en, Impression­en von gehetzter Arbeit, aber auch von Freundscha­ft und Solidaritä­t. Von der Einübung zur resigniert­en Unterwerfu­ng unter die Umstände – und von der Möglichkei­t, sich fröhlich dagegen zu behaupten, durch Nähe, durch Freundscha­ft. So strahlt die Geschichte

Wärme aus, ohne je zu überhitzen, diese Wärme ist ihre Energie. Allerdings, die Selbstwahr­nehmung der Schriftste­llerin als Putzfrau, die Problemati­k dieser Pseudo-Zugehörigk­eit wird kaum reflektier­t. Dem Regisseur und seiner Protagonis­tin lag wohl die quasi authentisc­he Anmutung näher. Die schönen Freundscha­ften überlagern zunehmend die schlechten Arbeitsbed­ingungen, da weht auch ein Hauch Sozialroma­ntik.

Am Ende aber fordern zwei der Frauen, die sich nicht auf das glückliche Ende eingelasse­n haben, die Schriftste­llerin auf, noch einmal mit zu den Toiletten zu gehen. Sie tut es nicht. Die beiden, ziemlich beste Freundinne­n aus der Putzkolonn­e, steigen in den Bus und fahren ohne ein Lächeln zurück in ihr echtes Leben. Das ist das letztes Bild dieses Filmes und sein ehrlichste­s auch.

Ab dem 30. Juni in (Lichthaus), (Kino am Hirschlach­ufer) und (Kino im Schillerho­f). Ab dem 7. Juli dann auch in (Metropol).

 ?? TAMALET CHRISTINE / NEUE VISIONEN ?? Die Schriftste­llerin Marianne Winckler ( Juliette Binoche) arbeitet als Putzfrau inkognito in der Hafenstadt Caen.
TAMALET CHRISTINE / NEUE VISIONEN Die Schriftste­llerin Marianne Winckler ( Juliette Binoche) arbeitet als Putzfrau inkognito in der Hafenstadt Caen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany