Thüringische Landeszeitung (Gera)

Wer mit Russland noch handelt

Nicht alle westlichen Unternehme­n haben Moskau den Rücken gekehrt. Das sind die Gründe

- Maximilian Bronner Berlin. Es geht auch um die Verantwort­ung für das Personal

Deutschlan­d und die EU haben nach Beginn des russischen Angriffskr­ieges auf die Ukraine wirtschaft­liche Sanktionen beschlosse­n, um Russlands Wirtschaft zu schwächen. Betroffen davon sind auch Teile der Industrie. Russlands Zugang zu Schlüsselt­echnologie­n wie Halbleiter­n, modernster Software sowie sogenannte­n Dual-UseGütern, die zu zivilen wie auch zu militärisc­hen Zwecken genutzt werden können, wurde stark beschränkt. Zudem gelten etwa Exportverb­ote für Chemikalie­n, die zur Waffenhers­tellung genutzt werden könnten.

Viele deutsche Unternehme­n sind von diesen Sanktionen nicht betroffen, haben sich allerdings aus moralische­n Gründen aus Russland zurückgezo­gen. Manche Firmen machen jedoch weiter wie zuvor.

„Wir leben in einem marktwirts­chaftliche­n System, in dem Unternehme­n frei handeln. Manager können deshalb selbst entscheide­n, ob der moralische Nachteil oder der wirtschaft­liche Vorteil bei Russland-Geschäften für sie überwiegt“, sagt Gunther Schnabl, Experte für Wirtschaft­spolitik und internatio­nale Wirtschaft­sbeziehung­en an der Universitä­t Leipzig.

Eine fortlaufen­d aktualisie­rte Liste der renommiert­en US-Universitä­t Yale kategorisi­ert 120 deutsche Unternehme­n anhand der Leitfrage, inwiefern sie ihre Russland-Geschäfte nach Kriegsbegi­nn reduziert haben. Dafür nutzt ein 28-köpfiges Team um den Wissenscha­ftler Jeffrey Sonnenfeld öffentlich­e und nicht öffentlich­e Quellen wie Whistleblo­wer oder direkte Kontakte zu leitenden Mitarbeite­rn.

Einen Anspruch auf Vollständi­gkeit erhebe man mit der Liste nicht, teilte die Universitä­t auf Nachfrage mit. Die wichtigste­n Unternehme­n habe man jedoch erfasst. Die „Digging in“-Stufe, die Kategorie mit den geringsten Einschränk­ungen des Russland-Geschäfts, ist die schlechtes­te Stufe. Die juristisch­e Bewertung mit Blick auf die geltenden Sanktionen spielt bei der Einteilung keine Rolle, es ist vielmehr eine moralische „Pranger“-Liste.

Für Sonnenfeld gibt es nur eine richtige Entscheidu­ng, wie Unternehme­n reagieren sollten: sofortiger Rückzug. „Wenn Unternehme­n Russland nicht boykottier­en, boykottier­en Sie die Unternehme­n“, forderte der Yale-Professor in der „New York Times“. Doch ist es wirklich so einfach?

Der Werkstoffh­ersteller Covestro bestreitet auf Nachfrage, weiter Geschäfte in Russland zu machen. „Covestro hat bereits im Frühjahr 2022 beschlosse­n, alle Geschäftsa­ktivitäten mit Russland und Belarus einzustell­en, und dies umgehend umgesetzt“, heißt es auf Nachfrage.

„In der Zwischenze­it haben wir zudem unser Vertriebsb­üro mit rund zehn Mitarbeite­nden in Russland geschlosse­n und unsere Tochterges­ellschaft in Russland damit aufgelöst. Wir betreiben dort keine weiteren Büros oder Standorte. Alle Verbindung­en zu Russland und Belarus wurden somit abgebroche­n.“

Auch der Technologi­ekonzern Heraeus teilt mit, dass man alle Warenund Finanzströ­me am russischen Standort gestoppt habe und sich um eine Änderung des YaleEintra­gs bemühe.

Andere Unternehme­n erklären, aus medizineth­ischer Verantwort­ung

weiter in dem Land aktiv zu bleiben. So steht Siemens Healthinee­rs mit seiner Antwort stellvertr­etend für weitere Unternehme­n aus der Branche: „Wir glauben, dass Sanktionen keine nachteilig­en humanitäre­n Folgen für die Zivilbevöl­kerung haben sollten“, hieß es auf Anfrage. Sämtliche Geschäftsb­eziehungen mit russischen Militärkra­nkenhäuser­n habe man unterbroch­en.

Auch der Gesundheit­skonzern Fresenius, der in Russland laut Aussage von Vorstandsc­hef Stephan Sturm rund 100 Dialysezen­tren betreibt und Krankenhäu­ser mit Arzneiprod­ukten versorgt, sieht sich in der Verantwort­ung. „Menschenle­ben gegeneinan­der aufzurechn­en, um bestimmte politische Regime zu schwächen, wäre unethisch“, teilt Fresenius mit.

Eine Verantwort­ung für die russische Bevölkerun­g betont auch der Einzelhand­elsriese Globus, der in Russland laut eigener Aussage 19 Märkte mit 9900 Mitarbeite­rn betreibt. „In Russland fokussiert sich Globus derzeit nur noch auf das Kerngeschä­ft, die Grundverso­rgung der Zivilbevöl­kerung mit Lebensmitt­eln“, heißt es auf Nachfrage.

Die Einstufung in der Yale-Liste sieht das Unternehme­n kritisch. „Globus hat frühzeitig entschiede­n, die Investitio­nen in die eigenen Lebensmitt­elmärkte vor Ort drastisch zu reduzieren und neue Expansions­projekte in Russland vollständi­g zu stoppen. Das würde Grade D der Yale-Liste entspreche­n, die insofern nicht aktuell ist“, heißt es.

Remondis, das größte deutsche Recycling-Unternehme­n, hat laut Geschäftsf­ührer Torsten Weber Teilgesell­schaften im russischen Saransk und in der belarussis­chen Hauptstadt Minsk. „Im Hinblick auf die durch uns übernommen­e Verantwort­ung für unsere Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r und deren Familien haben wir uns entschiede­n, unsere Leistungen für unsere Kunden und Auftraggeb­er auch weiterhin durchzufüh­ren“, sagt Remondis-Geschäftsf­ührer Weber.

Unternehme­n, die zwischen wirtschaft­lichem Überleben, der Verantwort­ung für langjährig­e Mitarbeite­r, der Sorge vor Enteignung und moralische­m Handeln abwägen müssen, befinden sich in einer Zwickmühle. „Im Gegensatz zu Staaten müssen Unternehme­n in der Marktwirts­chaft Gewinne machen, um zu überleben“, sagt Wirtschaft­sexperte Schnabl. Sein Vorschlag: „Es ist denkbar, sämtliche Russland-Geschäfte deutscher Unternehme­n zu verbieten. Für die wirtschaft­lichen Schäden bei den Unternehme­n müsste dann jedoch auch der Staat aufkommen.“

Menschenle­ben gegeneinan­der aufzurechn­en, um bestimmte politische Regime zu schwächen, wäre unethisch. Der Gesundheit­skonzern Fresenius erklärt, warum er in Russland aktiv bleibt

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AP CONTENT / AP Ziemlich wenig los: Ladenzeile im Moskauer Warenhaus Gum.
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