Thüringische Landeszeitung (Gera)
„Flieht vor den Russen, rettet euer Leben“
Die Ukraine will Donez evakuieren. Unsere Reporter waren vor Ort und erlebten, dass viele Bewohner bleiben wollen
In dem Kulturzentrum von Bachmut stapeln sich an den Wänden des Saals, in dem früher Konzerte gegeben wurden, die Pakete und Säcke mit Hilfsgütern. Es fällt nur ein wenig Tageslicht hinein, einige der Helferinnen sitzen um einen Tisch, auf dem Kerzen flackern. Es ist wieder einmal Stromausfall in der Kleinstadt im Donbass. Das bedrohliche Grummeln des Krieges, das den Alltag der Menschen im Osten der Ukraine untermalt, steigert sich hier zu einem infernalischen Donnern, wenn die ukrainischen Geschütze vor der Stadt auf die russischen Stellungen feuern, zu einem kreischenden Winseln, wenn die russischen Geschosse in die Stadt hineinfliegen.
„Die Front rückt näher an uns heran. Wir fordern unsere Bürger jeden Tag auf, die Stadt zu verlassen“, sagt Anna Petrienko-Polukhina, Sekretärin der Verwaltung von Bachmut. „Wir flehen sie an: Flieht vor den Russen, rettet euer Leben!“Jedoch harren viele Menschen in der Stadt aus. Bei manchen sitzt das Misstrauen gegen die Regierung tief.
Am Samstag hat Wolodymyr Selenskyj die Menschen in den wenigen noch unter ukrainischer Kontrolle stehenden Gebieten im Donbass dringend aufgefordert, ihre Dörfer und Städte zu verlassen. „Glauben Sie mir, je mehr Menschen aus dem Donezker Gebiet gehen, desto weniger Leute kann die russische Armee töten.“
Zuvor hatte die Regierung der Ukraine Zwangsevakuierungen angeordnet. Bisher ohne großen Erfolg. In Städten wie Slowjansk oder Kramatorsk, in denen immer wieder Raketen und Granaten einschlagen, sind laut lokalen Helfern sogar Menschen zurückgekehrt, weil ihnen auf der Flucht das Geld ausgegangen ist.
Bachmut liegt seit etwa einem Monat unter ständigem Beschuss. Die Kleinstadt ist strategisch wichtig, am Nordrand verläuft die Fernstraße M03, die in das nordwestlich gelegene und schon von Russland besetzte Isjum führt.
Die Situation für die Menschen in der Stadt wird jeden Tag bedrohlicher. Bereits im Mai hatte Bürgermeister Oleksij Rewa die 73.000 Einwohner aufgerufen zu fliehen. Etwas weniger als ein Drittel ist aber geblieben. „Das sind vor allem ältere Leute und Menschen, die Häuser und Gärten haben, sie weigern sich zu gehen“, berichtet Verwaltungssekretärin Petrienko-Polukhina.
Die Stadtmitarbeiter versuchen so gut wie möglich Hilfe für die verbliebenen Menschen zu organisieren. „Unsere Reparaturtrupps sind jeden Tag unterwegs, um die Schäden am Stromnetz oder der Wasserversorgung zu beheben. Mediziner suchen die Kranken auf.“Sogar das Passamt arbeite noch, sagt die 40Jährige. Warum sie selbst nicht flieht? „Im Moment bin ich eine Soldatin, die ihre Aufgaben und ihre Pflicht erfüllen muss, weil hier Dinge geregelt werden müssen, weil Menschen hier bleiben.“Sie lächelt: „Nach unserem großartigen Sieg werde ich wieder Mutter und Ehefrau sein und Urlaub machen.“
Vor dem Kulturzentrum warten ältere Menschen auf den Beginn der Verteilaktion. Eine Frau mit kupferfarbenem Haar stützt sich auf das Treppengeländer, sie zittert. Das ständige Donnern der Geschütze und die Explosionen seien daran schuld, sagt sie, früher sei sie nicht nervös gewesen. Mit Journalisten will sie eigentlich nicht sprechen.
„Ihr erzählt dann doch nur Märchen“, sagt sie. Ein wenig redet sie dann doch. Lehrerin sei sie gewesen, mehr als 40 Jahre. „Ich lebe hier seit 75 Jahren und ich habe niemanden gebeten, mich zu befreien“, erzählt sie. Es ist aber die ukrainische Regierung, auf die sie wütend ist.
Auf die Frage nach dem Warum schüttelt sie den Kopf und beißt sich auf die Lippen. Ihr Ehemann (86), der vor der Treppe sitzt, schimpft: „Selenskyj ist an allem schuld, der hat uns das eingebrockt.“Sie schlägt ihm von oben auf den Arm: „Hör auf, sonst nehmen die uns das Haus weg.“
Die Regierung in Kiew ist weit weg. Manche Menschen im Donbass werfen ihr vor, sie vergessen zu haben. Seit der Besetzung der Krim 2014 herrscht in der Region der Krieg zwischen den prorussischen Separatisten der sogenannten
Nach unserem großartigen Sieg werde ich wieder Mutter und Ehefrau sein und Urlaub machen. Anna Petrienko-Polukhina, Sekretärin der Stadtverwaltung