Thüringische Landeszeitung (Gera)
#langenichtgehört Die Narben auf der Seele
Das ehrwürdige Newport Folkfestival wartete vorvergangenes Wochenende mit zwei Sensationen auf: Der Auftritt von Paul Simon, eigentlich in Bühnen-Rente, ging fast unter in der Aufregung ob des anderen unangekündigten Comebacks – Joni Mitchell gab nach rund 20 Jahren ihr erstes Konzert.
Es reicht auf Youtube ein Blick in die Gesichter der mit den Tränen ringenden Mitmusiker, um die Bedeutung des Auftritts der 78-Jährigen zu erahnen. Mitchell kämpfte viele Jahre mit unterschiedlichen Erkrankungen und erlitt 2015 einen Schlaganfall. Sprechen, Singen und andere Fähigkeiten musste sie neu lernen – in Newport spielte sie sogar wieder Gitarre.
Der trotzige Lebenswille Mitchells erinnert an große Momente einer eindrücklichen Karriere, zu der politisches Engagement und Haltung gehören wie künstlerische Kompromiss- und Schonungslosigkeit. Als Beweis gilt ihr wohl berühmtestes Album „Blue“von 1971.
Die Platte erschien gegen Ende ihrer Singer-/Songwriterphase und vor ihrer Zuwendung zum Jazz. Die Instrumentierung ist sparsam: Mitchell singt zu Gitarre, Klavier oder einer Apalachian Dulcimer, einer Zither. Mehr Begleitung ist nicht nötig, die Intensität und die Klarheit der be- und gesungenen Gefühle trägt und bestimmt das gesamte Album. Die Musikerin, der Mensch Joni Mitchel offenbart sich dabei derart offenherzig, dass ihr Freunde zu etwas mehr Selbstschutz rieten.
Doch Kunst kennt selten Reglementierungen. Mitchell gilt als starke Frau, die sich in der Folkszene behauptete und Männer betörte. Gleich um mehrere gescheiterte Beziehungen geht es auf „Blue“. Etwa zu Graham Nash, den sie aus Angst vor dem Sesshaftwerden verließ.
Auch Mitchell wurde verlassen, James Taylor („You’ve got a Friend“) beendete Anfang der Siebziger ihre Liaison. Der Titelsong kündet von diesen Narben auf ihrer Seele.
Die selbstbewusste zur Schau getragene Verarbeitung von Herzschmerz und Zwischenmenschlichem, zumal in einer männerdominierten Branche, setzte Maßstäbe. Nachgeborene wie Taylor Swift haben das Modell zeitweise zu einem Kernelement ihrer Kunst erhoben.
Doch auf „Blue“geht es um mehr, als um Beziehungen von Erwachsenen. „Little Green“wurde lange als weiterer Song über eine glücklose Liebelei bewertet. Wie sich in den Neunzigerjahren herausstellte geht es um Mitchells Tochter, die sie 1966 zur Adoption frei gab.
Wir stellen vergessene, verkannte oder einst viel gehörte Alben vor. Alle Folgen: