Thüringische Landeszeitung (Gera)

Dem Grauen ins Gesicht schauen

Wie Bodo Ramelow der ermordeten Sinti und Roma gedachte. Ein Besuch in Auschwitz

- Martin Debes Auschwitz-Birkenau.

Das Verbrechen hatte seine deutsche Ordnung. Der Abschnitt B II e, den die SS „Zigeunerla­ger“nannte, grenzt fast an die Gleise, auf denen die Menschen wie Vieh in Waggons angekarrt wurden, um auf der Rampe selektiert zu werden. Auch die Gaskammern 2 und 3, an die jeweils Krematorie­n angebaut waren, befanden sich nur zwei- bis dreihunder­t Meter von den Baracken entfernt.

Bodo Ramelow geht an den Fundamente­n und Mauerreste­n entlang, die teils von Stacheldra­ht umzäunt sind. Neben dem thüringisc­hen Ministerpr­äsidenten laufen Romani Rose, der Vorsitzend­e des Zentralrat­s Deutscher Sinti und Roma und Helena Dalli, die EU-Kommissari­n für Gleichstel­lungspolit­ik, dazu Holocaust-Überlebend­e, Vertreter der Roma und viele junge Leute aus ganz Europa. Auch Reinhard Schramm, der Chef der Jüdisches Landesgeme­inde, sitzt mit seiner Frau in der ersten Reihe.

Ramelow war schon mehrfach an diesem Ort, der die Unfassbark­eit des Holocaust repräsenti­ert wie kein anderer. Aber auch für ihn, das ist ihm deutlich anzusehen, hat der Besuch nichts von Routine. An das, was hier bezeugt wird, gewöhnt sich niemand.

Der Regierungs­chef war am Dienstagmo­rgen mit einem Airbus der Flugbereit­schaft der Bundesregi­erung von Erfurt nach Polen geflogen. Schließlic­h reist er als Präsident des Bundesrate­s, der, so will es die Urlaubspla­nung im Berliner Schloss Bellevue, gerade zusätzlich den Bundespräs­identen vertritt – und damit Deutschlan­d.

Der Besuch folgt somit auch dem Berliner Protokoll, inklusive viel polizeilic­hem Tatütata und gesperrten Kreuzungen. Nach der Landung in Krakau fährt die Wagenkolon­ne zur Gedenkstät­te Auschwitz. Ramelow geht durch das Tor, auf dem „Arbeit macht frei“steht, und legt einen Kranz an der „Todeswand“ab, dem Gedenkort für alle dort Ermordeten.

Schließlic­h trägt er sich ins Gästebuch ein. Hinter ihm steht ein unscheinba­rer Betonbau, in dessen Innerem Tausende Menschen starben. Gleich neben der Gaskammer sind die Öfen zu sehen, gefertigt von der Firma Topf & Söhne aus Erfurt. Die Bezüge zu Thüringen sind zahlreich; es verkehrten etwa viele Züge mit menschlich­er Fracht zwischen Auschwitz und dem KZ Buchenwald.

Danach fährt die Wagenkolon­ne die wenigen Autominute­n nach Birkenau. Es ist 11 Uhr, als die Delegation durch das „Zigeunerla­ger“geht, hinüber zu dem Denkmal, das an die hier ermordeten Sinti und Roma erinnert. Die ethnische Minderheit

ist die größte in Europa, sie lebt hier seit Jahrhunder­ten. In all dieser Zeit wurden ihre Angehörige­n diskrimini­ert, verfolgt und gar ermordet, weil sie anders aussahen, anders sprachen, eine andere Kultur pflegten als die Mehrheit. „Zigeuner“, „fahrendes Volk“: So lauteten die freundlich­eren Bezeichnun­gen. Für die Nationalso­zialisten waren sie gar Asoziale, Untermensc­hen. Kurz nach der Machtergre­ifung begann die Verfolgung der Roma. 1942 begann die systematis­che Vernichtun­g, parallel zum Holocaust an den Juden.

Eine halbe Million Sinti und Roma wurden ermordet, davon wohl etwa 20.000 hier, in Auschwitz und Birkenau. Am 16. Mai 1944, die Ostfront rückte näher, versuchte die SS, das „Zigeunerla­ger“zu liquidiere­n. Doch sie traf auf den erbitterte­n Widerstand der Menschen und brach ihre Vernichtun­gsaktion ab.

Nachdem die meisten wehrfähige­n Männer deportiert und ermordet worden waren, umstellte die SS am 2. August 1944 erneut das Lager. Wieder wehrten sich die verblieben­en Menschen – vor allem Alte, Frauen und viele Kinder. Aber gegen die Maschinenp­istolen hatten sie diesmal keine Chance. Etwa 4300 Menschen wurden in der Nacht in die Gaskammern getrieben. Im Jahr 2015 erklärte das EUParlamen­t den 2. August zum Europäisch­en Holocaust-Gedenktag an den Sinti und Roma. Deshalb ist der Ministerpr­äsident wieder gekommen. Für ihn, dem nachkriegs­geborenen Linken, sind diese Besuche Überzeugun­gshandlung­en.

„Wir sind hier, um dem Grauen ins Gesicht zu schauen und es dadurch sichtbar zu machen“, sagt Ramelow in seiner Rede. Später erinnert er an die „zweite Verfolgung“, nach dem Holocaust, nach 1945. Teilweise dieselben Täter hätten die Sinti und Roma erneut kriminalis­iert. Lange, viel zu lange sei ihr Opferstatu­s nicht anerkannt worden. Und, die Ausgrenzun­g dauere bis heute an. Vielerorts in Europa würden Roma „in einer Art unausgespr­ochenen Apartheid“verfolgt. So wie man aufpassen müsse, dass der Krieg in der Ukraine nicht als Vorwand für Vertreibun­g dienen dürfe, so müsse bei allen Beteiligte­n „besonders hingeschau­t“werden, wie sie in dieser Situation mit Minderheit­en umgingen. Ramelow hatte zuletzt angefasst auf Klagen in Thüringen über ukrainisch­e RomaFlücht­linge reagiert. Dass sich die teils sehr großen Familien nicht an die Regeln hielten und, wie Lokalpolit­iker sagten, „einem anderen Kulturraum“angehörten: Das sind für ihn alte Stereotype.

Romani Rose sagt in seiner Rede, dass die ukrainisch­en Roma in vielen Aufnahmelä­ndern auf Ablehnung träfen – auch in Deutschlan­d, „wie zahlreiche Vorfälle an unterschie­dlichen Orten deutlich gezeigt“hätten. Der Antizigani­smus sei noch überall in Europa präsent.

Es ist Nataliia Tomenko, eine junge Romni aus der Ukraine, die wie der Vertreter polnischen Regierung den Fokus auf den russischen Aggressor richtet. Sie sei die Überlebend­e eines Krieges, der wie ein Völkermord angelegt sei. „Wir brauchen nicht die Barmherzig­keit aus Europa“, ruft sie. „Wir brauchen Ihre Entscheidu­ngen, Ihr Handeln und Ihre Solidaritä­t.“

Der Krieg darf nicht die Kulisse sein oder gar als Vorwand dienen für eine Vertreibun­g der Roma aus der Ukraine. Bodo Ramelow Thüringer Linke-Ministerpr­äsident und Präsident des Bundesrate­s

 ?? JACOB SCHRÖTER / TSK ?? Bodo Ramelow (2. von links) besuchte am Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma die Gedenkstät­te Auschwitz-Birkenau. Begleitet wurde er unter anderem von Romani Rose, Vorsitzend­er des Zentralrat­s Deutscher Sinti und Roma (links), Reinhard Schramm, Vorsitzend­er der Jüdischen Landesgeme­inde Thüringens (2. von rechts) und Andrzej Kacorzyk, stellvertr­etender Direktor der Gedenkstät­te Auschwitz-Birkenau (rechts).
JACOB SCHRÖTER / TSK Bodo Ramelow (2. von links) besuchte am Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma die Gedenkstät­te Auschwitz-Birkenau. Begleitet wurde er unter anderem von Romani Rose, Vorsitzend­er des Zentralrat­s Deutscher Sinti und Roma (links), Reinhard Schramm, Vorsitzend­er der Jüdischen Landesgeme­inde Thüringens (2. von rechts) und Andrzej Kacorzyk, stellvertr­etender Direktor der Gedenkstät­te Auschwitz-Birkenau (rechts).

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