Thüringische Landeszeitung (Gera)
Dem Grauen ins Gesicht schauen
Wie Bodo Ramelow der ermordeten Sinti und Roma gedachte. Ein Besuch in Auschwitz
Das Verbrechen hatte seine deutsche Ordnung. Der Abschnitt B II e, den die SS „Zigeunerlager“nannte, grenzt fast an die Gleise, auf denen die Menschen wie Vieh in Waggons angekarrt wurden, um auf der Rampe selektiert zu werden. Auch die Gaskammern 2 und 3, an die jeweils Krematorien angebaut waren, befanden sich nur zwei- bis dreihundert Meter von den Baracken entfernt.
Bodo Ramelow geht an den Fundamenten und Mauerresten entlang, die teils von Stacheldraht umzäunt sind. Neben dem thüringischen Ministerpräsidenten laufen Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und Helena Dalli, die EU-Kommissarin für Gleichstellungspolitik, dazu Holocaust-Überlebende, Vertreter der Roma und viele junge Leute aus ganz Europa. Auch Reinhard Schramm, der Chef der Jüdisches Landesgemeinde, sitzt mit seiner Frau in der ersten Reihe.
Ramelow war schon mehrfach an diesem Ort, der die Unfassbarkeit des Holocaust repräsentiert wie kein anderer. Aber auch für ihn, das ist ihm deutlich anzusehen, hat der Besuch nichts von Routine. An das, was hier bezeugt wird, gewöhnt sich niemand.
Der Regierungschef war am Dienstagmorgen mit einem Airbus der Flugbereitschaft der Bundesregierung von Erfurt nach Polen geflogen. Schließlich reist er als Präsident des Bundesrates, der, so will es die Urlaubsplanung im Berliner Schloss Bellevue, gerade zusätzlich den Bundespräsidenten vertritt – und damit Deutschland.
Der Besuch folgt somit auch dem Berliner Protokoll, inklusive viel polizeilichem Tatütata und gesperrten Kreuzungen. Nach der Landung in Krakau fährt die Wagenkolonne zur Gedenkstätte Auschwitz. Ramelow geht durch das Tor, auf dem „Arbeit macht frei“steht, und legt einen Kranz an der „Todeswand“ab, dem Gedenkort für alle dort Ermordeten.
Schließlich trägt er sich ins Gästebuch ein. Hinter ihm steht ein unscheinbarer Betonbau, in dessen Innerem Tausende Menschen starben. Gleich neben der Gaskammer sind die Öfen zu sehen, gefertigt von der Firma Topf & Söhne aus Erfurt. Die Bezüge zu Thüringen sind zahlreich; es verkehrten etwa viele Züge mit menschlicher Fracht zwischen Auschwitz und dem KZ Buchenwald.
Danach fährt die Wagenkolonne die wenigen Autominuten nach Birkenau. Es ist 11 Uhr, als die Delegation durch das „Zigeunerlager“geht, hinüber zu dem Denkmal, das an die hier ermordeten Sinti und Roma erinnert. Die ethnische Minderheit
ist die größte in Europa, sie lebt hier seit Jahrhunderten. In all dieser Zeit wurden ihre Angehörigen diskriminiert, verfolgt und gar ermordet, weil sie anders aussahen, anders sprachen, eine andere Kultur pflegten als die Mehrheit. „Zigeuner“, „fahrendes Volk“: So lauteten die freundlicheren Bezeichnungen. Für die Nationalsozialisten waren sie gar Asoziale, Untermenschen. Kurz nach der Machtergreifung begann die Verfolgung der Roma. 1942 begann die systematische Vernichtung, parallel zum Holocaust an den Juden.
Eine halbe Million Sinti und Roma wurden ermordet, davon wohl etwa 20.000 hier, in Auschwitz und Birkenau. Am 16. Mai 1944, die Ostfront rückte näher, versuchte die SS, das „Zigeunerlager“zu liquidieren. Doch sie traf auf den erbitterten Widerstand der Menschen und brach ihre Vernichtungsaktion ab.
Nachdem die meisten wehrfähigen Männer deportiert und ermordet worden waren, umstellte die SS am 2. August 1944 erneut das Lager. Wieder wehrten sich die verbliebenen Menschen – vor allem Alte, Frauen und viele Kinder. Aber gegen die Maschinenpistolen hatten sie diesmal keine Chance. Etwa 4300 Menschen wurden in der Nacht in die Gaskammern getrieben. Im Jahr 2015 erklärte das EUParlament den 2. August zum Europäischen Holocaust-Gedenktag an den Sinti und Roma. Deshalb ist der Ministerpräsident wieder gekommen. Für ihn, dem nachkriegsgeborenen Linken, sind diese Besuche Überzeugungshandlungen.
„Wir sind hier, um dem Grauen ins Gesicht zu schauen und es dadurch sichtbar zu machen“, sagt Ramelow in seiner Rede. Später erinnert er an die „zweite Verfolgung“, nach dem Holocaust, nach 1945. Teilweise dieselben Täter hätten die Sinti und Roma erneut kriminalisiert. Lange, viel zu lange sei ihr Opferstatus nicht anerkannt worden. Und, die Ausgrenzung dauere bis heute an. Vielerorts in Europa würden Roma „in einer Art unausgesprochenen Apartheid“verfolgt. So wie man aufpassen müsse, dass der Krieg in der Ukraine nicht als Vorwand für Vertreibung dienen dürfe, so müsse bei allen Beteiligten „besonders hingeschaut“werden, wie sie in dieser Situation mit Minderheiten umgingen. Ramelow hatte zuletzt angefasst auf Klagen in Thüringen über ukrainische RomaFlüchtlinge reagiert. Dass sich die teils sehr großen Familien nicht an die Regeln hielten und, wie Lokalpolitiker sagten, „einem anderen Kulturraum“angehörten: Das sind für ihn alte Stereotype.
Romani Rose sagt in seiner Rede, dass die ukrainischen Roma in vielen Aufnahmeländern auf Ablehnung träfen – auch in Deutschland, „wie zahlreiche Vorfälle an unterschiedlichen Orten deutlich gezeigt“hätten. Der Antiziganismus sei noch überall in Europa präsent.
Es ist Nataliia Tomenko, eine junge Romni aus der Ukraine, die wie der Vertreter polnischen Regierung den Fokus auf den russischen Aggressor richtet. Sie sei die Überlebende eines Krieges, der wie ein Völkermord angelegt sei. „Wir brauchen nicht die Barmherzigkeit aus Europa“, ruft sie. „Wir brauchen Ihre Entscheidungen, Ihr Handeln und Ihre Solidarität.“
Der Krieg darf nicht die Kulisse sein oder gar als Vorwand dienen für eine Vertreibung der Roma aus der Ukraine. Bodo Ramelow Thüringer Linke-Ministerpräsident und Präsident des Bundesrates