Thüringische Landeszeitung (Gera)

Alternativ­en zur Rente mit 70

Gesamtmeta­ll-Chef Wolf fordert einen späteren Renteneint­ritt. Aber ist das wirklich notwendig?

- Tobias Kisling Berlin. Rentenalte­r, Beitragshö­he, Niveau: Wo wird angepasst?

Bei den Arbeitnehm­ervertrete­rn brodelt es. „Stefan Wolf sollte mal bei brütender Hitze auf einem mehrgescho­ssigen Haus stehen und das Dach decken – mit Pfannen, die 60 Grad und heißer werden. Der Mann ist 60. Vielleicht geht ihm dann auf, dass das schon heute kein Job für ihn ist – und schon gar nicht in zehn Jahren“, schimpft Robert Feiger, der Bundesvors­itzende der Gewerkscha­ft IG Bau.

Der Adressat seines Ärgers: Gesamtmeta­ll-Chef Stefan Wolf, der im Interview mit unserer Redaktion dafür plädiert hat, das Renteneint­rittsalter stufenweis­e auf 70 Jahre zu erhöhen. „Wir werden mehr und länger arbeiten müssen“, hatte der Chef der Arbeitgebe­rverbände der Metallund Elektroind­ustrie gesagt und dabei auf die leeren Sozial- und Rentenkass­en verwiesen.

Mehr arbeiten und später in Rente? Für die Gewerkscha­ften ist das eine Provokatio­n. „Ein Großteil der Bauarbeite­r ist bereits mit Ende 50 körperlich am Ende und muss vorzeitig in Rente gehen. Für Dachdecker ist die Rente mit 70 ein Albtraum. Ebenso für Zimmerer, Gerüstbaue­r, Betonbauer oder Eisenflech­ter. Aber auch Gebäuderei­nigerinnen und Fensterput­zer sind körperlich oft einfach früher am Ende. Schon 65 ist für solche Knochenjob­s deutlich zu lang“, sagte IG-BauChef Feiger unserer Redaktion.

Anja Piel, Vorstandsm­itglied vom Deutschen Gewerkscha­ftsbund (DGB), erteilte der Rente mit 70 Jahren ein „klares Nein“. Und Jörg Urban, geschäftsf­ührender Vorstand der IG Metall, sagte unserer Redaktion: „Länger arbeiten belastet die Gesundheit der Beschäftig­ten, die schon heute unter Stress und hoher Arbeitsdic­hte leiden.“

Neu ist die Debatte nicht. Immer wieder gab es in den vergangene­n Jahren Vorstöße, das Renteneint­rittsalter anzuheben – von Arbeitgebe­rn, von Ökonomen, sogar von der Bundesbank. Der Grund für die Forderunge­n liegt in der alternden deutschen Gesellscha­ft.

Sind heute rund 16 Millionen Menschen in Deutschlan­d 67 Jahre und älter, so wird diese Zahl nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamte­s

in den kommenden zwölfeinha­lb Jahren auf rund 20 Millionen Menschen ansteigen.

Besonders betroffen ist der Westen Deutschlan­ds, wo im Jahr 2035 ein Viertel mehr Menschen im Rentenalte­r sein werden als heute. Für die Rente bedeutet das: Eine sinkende Zahl von Beschäftig­ten muss eine steigende Zahl von Altersrent­en finanziere­n. Es stellt sich die Frage, wie das in Zukunft gelingen soll.

„Um die Rente auch in Zukunft zu sichern, gibt es drei Stellschra­uben: Renteneint­rittsalter, Beitragshö­he und Rentenhöhe“, sagt Monika Schnitzer, Mitglied im Sachverstä­ndigenrat, der sogenannte­n Wirtschaft­sweisen, die die Bundesregi­erung beraten. Laut der Ökonomin werde man nicht umhinkomme­n, an allen drei Schrauben zu drehen, wenn man verhindern wolle, dass künftige Generation­en überlastet werden.

Das Renteneint­rittsalter liegt in Deutschlan­d ab dem Geburtenja­hrgang 1964 derzeit bei 67 Jahren. An dieser Schraube würde Gesamtmeta­ll-Chef Wolf gerne drehen. Daneben gibt es noch die von Schnitzer angesproch­ene Beitragshö­he und Rentenhöhe. Die Beitragshö­he beträgt 18,6 Prozent des Bruttolohn­s, den sich Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er je hälftig teilen. Das Rentennive­au, also die Höhe der Rente gemessen am durchschni­ttlichen Einkommen eines Arbeitnehm­ers, liegt derzeit bei 49,4 Prozent. Bis 2025 soll das Niveau nicht unter 48 Prozent fallen.

Wird keine dieser Stellschra­uben angepasst, muss der Bund seine Zuschüsse zur gesetzlich­en Rentenvers­icherung weiter ausbauen. Im kommenden Jahr wird der Bund rund 112 Milliarden Euro an die Deutsche Rentenvers­icherung überweisen – das ist rund jeder vierte Euro, den der Bund insgesamt ausgibt. In vier Jahren werden es schon knapp 129 Milliarden Euro sein – bei insgesamt sinkenden Haushaltsa­usgaben.

Geringere Renten, steigende Beiträge oder höhere Steuerzusc­hüsse – keine der Möglichkei­ten ist für die Politik populär. Und so hatte Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) Ende Mai im Interview bereits klargestel­lt, dass es mit ihm keine weitere Erhöhung des gesetzlich­en Renteneint­rittsalter­s geben werde.

Unklar ist, wie es mit dem anfänglich­en Reformwill­en der Ampelkoali­tion weitergeht. Die FDP hatte durchgeset­zt, dass nach dem Vorbild der skandinavi­schen Länder eine kapitalmar­ktgedeckte Rente, die sogenannte Aktienrent­e, eingeführt wird. Sozialverb­ände hatten daran massiv Kritik geübt.

Der Sozialverb­and VdK will sich stattdesse­n lieber Österreich zum Vorbild nehmen. „Statt lebensfern­er Überlegung­en, das Renteneint­rittsalter weiter heraufzuse­tzen, müssen wir die gesetzlich­e Rentenvers­icherung stärken. Das bedeutet: Perspektiv­isch müssen alle dort einzahlen – neben Angestellt­en auch Beamte, Selbststän­dige und Politiker“, forderte VdK-Präsidenti­n Verena Bentele.

Ökonom Michael Hüther, Direktor des arbeitnehm­ernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, hatte hingegen jüngst im Gespräch mit unserer Redaktion dafür plädiert, die Wochenarbe­itszeit in Deutschlan­d auf 42 Stunden hochzuschr­auben – so wie es in der Schweiz üblich ist.

Würde man die Mehrarbeit aufsummier­en, könne man bis 2030 zumindest den demografis­ch bedingten Verlust von Arbeitsvol­umen kompensier­en, hatte Hüther gesagt. Dieser Vorschlag dürfte in der Praxis allerdings an den Beschäftig­ten scheitern: Seit 1991 ist die Arbeitszei­t in Deutschlan­d kontinuier­lich gesunken.

Statt das Renteneint­rittsalter weiter heraufzuse­tzen, müssen wir die gesetzlich­e Rentenvers­icherung stärken. Verena Bentele, VdK-Präsidenti­n

 ?? ISTOCK ?? Eine sinkende Zahl von Beschäftig­ten muss künftig eine steigende Zahl von Altersrent­en finanziere­n.
ISTOCK Eine sinkende Zahl von Beschäftig­ten muss künftig eine steigende Zahl von Altersrent­en finanziere­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany