Thüringische Landeszeitung (Gera)

Distelli war unerschöpf­lich in drolligen Karikature­n

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Ein ehemaliger Jenaer Universitä­tsarchivar (1976-1986) schreibt zum Bericht über den Karzer:

Der spätere Maler und Karikaturi­st Martin Distelli aus der Schweiz ist nicht einfach an der Universitä­t zu Besuch gewesen, er war in Jena immatrikul­iert und hat hier 1822/23 Philosophi­e studiert. Er war im Umkreis der noch nicht verbotenen Burschensc­haft tätig und stellte seine künstleris­che Begabung in den Dienst der politische­n Bewegung der Studentens­chaft: Karikature­n in der „Burschenze­itung (nicht überliefer­t), anonym ausgehängt­e Federzeich­nungen (im Universitä­tsarchiv), schließlic­h auch die Wandbilder im Universitä­tskarzer. Sein Kommiliton­e Arnold Ruge, der spätere linke Demokrat und Mitglied der Frankfurte­r Nationalve­rsammlung von 1848/49, hat uns in seinen Erinnerung­en „Aus früherer Zeit“im 2. Band die wahre Geschichte der Ausmalung des Universitä­tskarzers überliefer­t, und da ist kein Platz für eine angebliche Legende von „Blut und Kot“. Ruge berichtet: „Distelli war unerschöpf­lich in drolligen Karikature­n. Einmal hatte der rothe Demme eine Karzerstra­fe zu bestehen. Distelli besuchte ihn und malte die Wände al fresco mit Kohle. Es waren Scenen vom Jenenser Markt, der Raub der Sabinerinn­en und Marius auf den Trümmern von Carthago, wo er in einer Schlafmütz­e und mit einer Thonpfeife im Munde saß. Der Rothe empfand nun, daß seiner

Karzerhaft ein unsterblic­hes Denkmal errichtet sei, und wirklich machte die Malerei so viel Aufsehn, daß zunächst einige Professore­n und endlich sogar der Großherzog sie ansahen, ja, daß der Serenissim­us den Karzer schließen ließ, um die Wandgemäld­e zu erhalten.“Und auch in Jonathan Carl Zenkers „Historisch-topographi­sches Taschenbuc­h von Jena und seiner Umgebung“(1836) kann man einiges darüber erfahren.

Alles das ist nachzulese­n in der von der Universitä­t herausgege­benen Reihe „Jenaer Reden und Schriften“in der dortigen Publikatio­n „Jena soll leben. Beiträge zum historisch­en Studentenl­eben an der Universitä­t Jena“von 1991, die einen umfangreic­hen Beitrag „Aus der Geschichte des Jenaer Universitä­tskarzers“enthält. Darin ist noch viel mehr über Martin Distelli als Student in Jena zu erfahren.

Da kann man sich nur über Mutmaßunge­n und angebliche Gerüchte über die Ausmalung wundern, wie sie in der jetzigen Zeitungsme­ldung von einer „Karzer-Spezialist­in“und einer „Kustodin der Universitä­t“bekannt gegeben worden sind. Altes Wissen ist eben nicht veraltet, man muss nur wissen, wo es steht. Prof. Dr. Volker Wahl, Weimar

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