Thüringische Landeszeitung (Gera)

China zieht seine Grenzen neu

Volksrepub­lik reklamiert große Gebiete in Russland und Indien für sich – so reagiert Putin

- Fabian Kretschmer

Wahre Freunde halten auch in schlechten Zeiten zusammen, heißt es. Peking jedoch nutzt die derzeitige Lage Moskaus eiskalt aus: In einer neuen Standardka­rte markiert die Volksrepub­lik ihren Anspruch auf über 100 Quadratkil­ometer russischen Territoriu­ms. Die Insel Bolschoi Ussurijski am nordöstlic­hen Zipfel des Landes ist in dem Dokument plötzlich chinesisch. Bereits Ende August hat das Ministeriu­m für natürliche Ressourcen eine Neuversion der „nationalen Karte Chinas“herausgege­ben.

Dabei handelt sich um ein offizielle­s Dokument, das unter anderem von Unis und Schulen sowie den Medien des Landes verwendet wird. Vor allem aber entlarvt die Karte so unverhohle­n wie selten zuvor Chinas expansive Territoria­lansprüche. Einige davon sind nicht neu: Dass die demokratis­ch regierte Insel Taiwan als chinesisch ausgewiese­n würde, war zu erwarten. Auch Pekings illegale Besitzansp­rüche über weite Teile des Südchinesi­schen Meers überrasche­n nicht weiter.

Doch die Behörden gingen diesmal noch einen Schritt weiter: So hat das Ministeriu­m in der neuen Karte auch die 3500 Kilometer lange Grenze zu Indien deutlich verschoben. Der Bundesstaa­t Arunachal Pradesh wurde kurzerhand in Süd-Tibet umbenannt, auch die Bergregion Aksai Chin westlich von Tibet ist nun chinesisch eingefärbt. „Wir weisen die Ansprüche zurück, da sie keinerlei Grundlage haben“, heißt es erbost vom indischen Außenminis­terium.

Die chinesisch­en Ansprüche könnten dazu führen, dass der Grenzkonfl­ikt zwischen den beiden Atommächte­n wieder eskaliert: Erst 2020 kam es im Himalaya zwischen indischen und chinesisch­en Soldaten zu Gefechten mit mindestens zwei Dutzend Toten. Der russisch-chinesisch­e Grenzkonfl­ikt hätte vor Jahrzehnte­n weitaus schlimmer enden können. Im Westen ist der „Zwischenfa­ll am Ussuri“von 1969 kaum bekannt. Doch wie Historiker mittlerwei­le dokumentie­rt haben, schrammten China und die Sowjetunio­n nur haarscharf an einem Nuklearkon­flikt vorbei.

Bei der umstritten­en Insel im Amur-Fluss handelt es sich um ein chinesisch­es Gebiet, welches erst 1929 im Zuge des sowjetisch-chinesisch­en Krieges von Moskaus Truppen erobert wurde. 2004 verpflicht­ete sich Russland schließlic­h, die westliche Hälfte an China zurückzuge­ben. Peking hingegen gab damals seine Besitzansp­rüche am östlichen Teil der Insel auf. Nun jedoch scheint die Parteiführ­ung in Peking die Gunst der Stunde nutzen zu wollen.

Und die Rechnung geht auf: Der Kreml hat die Demütigung aus Peking bislang still hingenomme­n, ja hinnehmen müssen. Denn Russland hat sich seit dem UkraineKri­eg in eine tiefe Abhängigke­it gegenüber Peking begeben. Wirtschaft­lich füllen chinesisch­e Unternehme­n jenes Vakuum, welches der westliche Exodus hinterlass­en hat: Chinesisch­e Autos fahren auf Moskaus Straßen, auch die Verbrauche­relektroni­k ist zunehmend „made in China“. Gleichzeit­ig erhält die Volksrepub­lik Rekordmeng­en an russischem Öl zu Rabattprei­sen.

Machthaber Xi Jinping lässt sich seine nach außen zelebriert­e „grenzenlos­e Freundscha­ft“zu Moskau fürstlich bezahlen. Als Gegenleist­ung bietet das Reich der Mitte eine Art Lebensvers­icherung an: Xi hat zwar durchaus Interesse, seinen nördlichen Nachbarn als politisch loyalen Vasallenst­aaten an der kurzen Leine halten. Doch er wird ebenso dafür sorgen, dass das System Putin weiter stabil bleibt – ein Kollaps der amtierende­n Regierung wäre für China das denkbar schlimmste Szenario. Schließlic­h teilt man eine über 4000 Kilometer lange Landesgren­ze. Wer sich in staatsnahe­n russischen Kreisen in Peking umhört, vernimmt jedoch längst offenen Unmut. Echte Freundscha­ft zu China könne es gar nicht geben, sagt etwa eine Quelle. Das Land kenne nur eigene Machtinter­essen. Bei den Territoria­lansprüche­n der neuen Landkarte würde es sich keineswegs um einen „versehentl­ichen“Fehler handeln, sondern um machtpolit­isches Kalkül. Doch Putin müsse dies in der derzeitige­n Situation einfach hinuntersc­hlucken.

Es ist jene kühle Machtpolit­ik Pekings, die auch dafür sorgt, dass die chinesisch­e Regierung in den meisten Nachbarsta­aten als Bedrohung wahrgenomm­en wird. Die japanische Regierung hält mit ihrer Kritik längst nicht mehr hinterm Berg, auch aus den südostasia­tischen Staaten gibt es immer wieder erboste Stellungna­hmen. Und selbst in der Mongolei, die zu großen Teilen von der chinesisch­en Wirtschaft abhängig ist, sind die Machthaber in Peking geradezu verhasst. In China selbst bekommt die Bevölkerun­g dank der flächendec­kenden Zensur davon nur wenig mit. Auch der Territoria­lstreit mit Moskau wird als westliche Verschwöru­ng abgetan.

 ?? GETTY IMAGES ?? China erhebt auf neuen Karten Anspruch auf Teile des indischen Staatsgebi­ets. Das Foto zeigt eine indische Grenzpatro­uille.
GETTY IMAGES China erhebt auf neuen Karten Anspruch auf Teile des indischen Staatsgebi­ets. Das Foto zeigt eine indische Grenzpatro­uille.

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