Thüringische Landeszeitung (Gera)

Clown im Krieg

Anatoli und Viola Michaelis aus Weimar bringen ihren musikalisc­hen Zirkus in die Ukraine

- Michael Helbing

Da ist diese Frau aus Charkiw, die mit drei Generation­en ihrer Familie nach Lwiw alias Lemberg flüchtete, weil russische Raketen Wohnblöcke ihrer Heimatstad­t ins Visier nahmen. Da ist eine Bibliothek­arin, deren Mann einen Gebrauchtw­agen zum „Fluchtauto“umbaute, um damit Verletzte und auch Tote von den Frontlinie­n ins Hinterland zu bringen, bis er dabei selbst schwer verwundet wurde.

Da ist ein Mann, dessen Auto in Mariupol verbrannte, mit seinem Freund darinnen. Und da ist auch eine Physiother­apeutin, die alle ihre Hoffnungen in Putin setzte, bis dessen Armee das Leben ihrer 21-jährigen Tochter jäh beendete: Sie war zu Großeltern ins Nachbarhau­s gegangen, wo eine Rakete einschlug; der Großvater und sie kamen um. „Jeder kann etwas erzählen“, sagt Anatoli Michaelis. „So viele Geschichte­n. Du schaffst das gar nicht alles. Man kann ein bisschen helfen und muss dann weitergehe­n.“

Anatoli und Viola Michaelis, 62 und 56, sitzen in ihrem Weimarer Wohnzimmer und sind erschöpft, er vor allem. Das freiberufl­iche Musikerpaa­r, Trompeter er, Pianistin und Sängerin sie, hat gerade mal wieder den Urlaub geopfert, um in die Ukraine zu fahren, drei Wochen im Sommer, über 3000 Kilometer mit dem Kastenwage­n, sieben Auftritte mit „Anatolis musikalisc­hem Zirkus“, nebenbei Geld- und Sachspende­n.

Ein Clown im Krieg. Es war Anatolis sechste Reise dorthin, seit jenem Februar 2022. Viola begleitete ihn jetzt zum dritten Mal, auf der großen Fahrt sowie am E-Piano. „Viola?“, fragt der Clown auf der Bühne und wundert sich: „Also Bratsche spielt Klavier!?“Ihr Part beginnt russisch: ein Auszug Rachmanino­ws cis-Moll-Prélude.

Diesmal begann ihre Tour in Bibliothek­en in Lwiw, wo Tage zuvor Menschen bei einem Raketenang­riff auf einen Wohnblock starben, und Riwne. Dann ging’s, über ein Ferienlage­r in Iwano-Frankiwsk, nach Transkarpa­tien an der Grenze zu Rumänien: Sommerlage­r in Rachiw (dort auch noch ein Auftritt im Kulturhaus), bei Tjatschiw und Uschgorod, zuletzt der alte Kurort Truskawez. Die Kinder, die dort Ferien machen dürfen, kommen zumeist aus dem Osten, wo ihre Eltern, sofern noch am Leben, im Krieg sind.

Zum Camp Eden bei Tjatschiw gibt es schon längeren Kontakt.

Eine christlich­e Familie betreibt es. Sie hatte das Sommerlage­r für den Winter als Flüchtling­sunterkunf­t umgerüstet. Anatoli und Viola Michaelis konnten helfen: mit Geld für die Handwerker, die Heizungen einbauten, oder für die fällige Grundsteue­r, auch mit Lebensmitt­eln, Erste-Hilfe-Utensilien und batteriebe­triebenen LED-Lampen, mit Radiatoren und Generatore­n. Konkrete Hilfe, darum geht es. Das Geld spendeten Kollegen, Freunde, Nachbarn in Weimar und, nach Berichten in der Lokalzeitu­ng, in Jena, wo Anatoli an der Musikschul­e unterricht­et. „Große Summen“überwiesen sie infolge dessen auch an polnische Hilfsverei­ne, die ukrainisch­e Schulen unterstütz­en oder im Kriegsgebi­et zurückgebl­iebene Behinderte.

Darüber hinaus aber transporti­ert Anatoli Michaelis „ein bisschen Freude“in die Ukraine. Er zieht sich die übergroßen roten Schuhe an, setzt sich die rote Nase auf und macht Quatsch mit Musik. Seit einigen Jahren ist er mit dem

Programm unterwegs. „Aber solche Dankbarkei­t wie dort habe ich noch nie erlebt.“Am häufigsten höre er danach den Satz: „Kommt Ihr bitte wieder!?“

Es begann im April 2022 in Freiburg im Breisgau, wo beider Tochter Paulina als Tänzerin lebt. In drei Bussen kamen 157 Heimkinder aus Butscha an. Paulina holte Anatolis musikalisc­hen Zirkus, in dem sie mitspielt, wenn es sich ergibt, dorthin. Bald darauf spielte Anatoli vor ukrainisch­en Flüchtling­en in Polen. Schließlic­h ging es nach Kiew, seine Heimatstad­t, wo der Onkel gestorben

war. Von der Haushaltsa­uflösung brachte er zwei Autoladung­en in eben jenes Kinderheim, das evakuiert worden, nun aber voller Flüchtling­e aus Osten war.

Familiengr­uppe „Die zwei Verrückten und ich“

Er trat auch im Kiewer Mutter-Kinder-Klinikum mit seinen 1500 Betten auf, einige Kinder saßen im Rollstuhl, einigen fehlten Hände oder Beine. Der erste Auftritt fand nach einem Luftalarm im Keller statt. Ostern 2023 war er wieder dort, diesmal mit Viola. Wieder Luftalarm. Viola ging gerade, wie viele andere, im Stadtpark spazieren und bekam gar nichts davon mit, erst durch ihre Tochter, deren App auf dem Handy in Freiburg den Alarm anzeigte. Paulina ist nicht ganz so glücklich über diese Reisen ihrer Eltern. Die Familiengr­uppe bei WhatsApp hat sie „Die zwei Verrückten und ich“genannt.

Anatoli kam 1986 als Militärmus­iker der Sowjetarme­e nach Weimar. „Ich bin mit der Trompete einmarschi­ert“,

scherzt er heute darüber. Er konnte dann an der LisztHochs­chule studieren. In Kiew sprach er immer russisch, in der Schule gab es eine Stunde Ukrainisch pro Woche. Inzwischen intensivie­rt er seine Kenntnisse und hört sich Selenskys tägliche Ansprachen an. „Nur dank diesem Mann gibt es die Ukraine überhaupt noch“, sagt Anatoli.

Der Krieg ist alltäglich geworden, fast normal. „Jeden Tag gibt es Luftalarm, die Leute reagieren schon gar nicht mehr darauf.“Ja, alle warteten ganz gewiss doch auf ein baldiges Ende. Das sei aber bislang nicht abzusehen. „Es hört nicht auf; Putin hat noch zu viele Raketen, zu viel Munition.“Und die Ukrainer seien unter solchen Umständen bereit, für die Freiheit zu sterben. „Sollten sie etwa besser Putins Sklaven werden und dann ist alles okay!?“

Im Ferienlage­r bei Tjatschiw trugen die Betreuer Erkennungs­schildchen an der Brust. „Neslamny“stand darauf zu lesen: „Hab keine Angst.“

So viele Geschichte­n. Du schaffst das gar nicht alles. Man kann ein bisschen helfen und muss dann weitergehe­n. Anatoli Michaelis über seine Begegnunge­n in der Ukraine

 ?? VITALIY HRABAR / ANATOLI MICHAELIS ?? Trompeter und Musikclown Anatoli Michaelis und seine Frau, die Pianistin Viola Michaelis (hinten links), nach einem Auftritt im August 2023 in der Regionalbi­bliothek für Kinder in Lwiw.
VITALIY HRABAR / ANATOLI MICHAELIS Trompeter und Musikclown Anatoli Michaelis und seine Frau, die Pianistin Viola Michaelis (hinten links), nach einem Auftritt im August 2023 in der Regionalbi­bliothek für Kinder in Lwiw.

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