Thüringische Landeszeitung (Gera)
Clown im Krieg
Anatoli und Viola Michaelis aus Weimar bringen ihren musikalischen Zirkus in die Ukraine
Da ist diese Frau aus Charkiw, die mit drei Generationen ihrer Familie nach Lwiw alias Lemberg flüchtete, weil russische Raketen Wohnblöcke ihrer Heimatstadt ins Visier nahmen. Da ist eine Bibliothekarin, deren Mann einen Gebrauchtwagen zum „Fluchtauto“umbaute, um damit Verletzte und auch Tote von den Frontlinien ins Hinterland zu bringen, bis er dabei selbst schwer verwundet wurde.
Da ist ein Mann, dessen Auto in Mariupol verbrannte, mit seinem Freund darinnen. Und da ist auch eine Physiotherapeutin, die alle ihre Hoffnungen in Putin setzte, bis dessen Armee das Leben ihrer 21-jährigen Tochter jäh beendete: Sie war zu Großeltern ins Nachbarhaus gegangen, wo eine Rakete einschlug; der Großvater und sie kamen um. „Jeder kann etwas erzählen“, sagt Anatoli Michaelis. „So viele Geschichten. Du schaffst das gar nicht alles. Man kann ein bisschen helfen und muss dann weitergehen.“
Anatoli und Viola Michaelis, 62 und 56, sitzen in ihrem Weimarer Wohnzimmer und sind erschöpft, er vor allem. Das freiberufliche Musikerpaar, Trompeter er, Pianistin und Sängerin sie, hat gerade mal wieder den Urlaub geopfert, um in die Ukraine zu fahren, drei Wochen im Sommer, über 3000 Kilometer mit dem Kastenwagen, sieben Auftritte mit „Anatolis musikalischem Zirkus“, nebenbei Geld- und Sachspenden.
Ein Clown im Krieg. Es war Anatolis sechste Reise dorthin, seit jenem Februar 2022. Viola begleitete ihn jetzt zum dritten Mal, auf der großen Fahrt sowie am E-Piano. „Viola?“, fragt der Clown auf der Bühne und wundert sich: „Also Bratsche spielt Klavier!?“Ihr Part beginnt russisch: ein Auszug Rachmaninows cis-Moll-Prélude.
Diesmal begann ihre Tour in Bibliotheken in Lwiw, wo Tage zuvor Menschen bei einem Raketenangriff auf einen Wohnblock starben, und Riwne. Dann ging’s, über ein Ferienlager in Iwano-Frankiwsk, nach Transkarpatien an der Grenze zu Rumänien: Sommerlager in Rachiw (dort auch noch ein Auftritt im Kulturhaus), bei Tjatschiw und Uschgorod, zuletzt der alte Kurort Truskawez. Die Kinder, die dort Ferien machen dürfen, kommen zumeist aus dem Osten, wo ihre Eltern, sofern noch am Leben, im Krieg sind.
Zum Camp Eden bei Tjatschiw gibt es schon längeren Kontakt.
Eine christliche Familie betreibt es. Sie hatte das Sommerlager für den Winter als Flüchtlingsunterkunft umgerüstet. Anatoli und Viola Michaelis konnten helfen: mit Geld für die Handwerker, die Heizungen einbauten, oder für die fällige Grundsteuer, auch mit Lebensmitteln, Erste-Hilfe-Utensilien und batteriebetriebenen LED-Lampen, mit Radiatoren und Generatoren. Konkrete Hilfe, darum geht es. Das Geld spendeten Kollegen, Freunde, Nachbarn in Weimar und, nach Berichten in der Lokalzeitung, in Jena, wo Anatoli an der Musikschule unterrichtet. „Große Summen“überwiesen sie infolge dessen auch an polnische Hilfsvereine, die ukrainische Schulen unterstützen oder im Kriegsgebiet zurückgebliebene Behinderte.
Darüber hinaus aber transportiert Anatoli Michaelis „ein bisschen Freude“in die Ukraine. Er zieht sich die übergroßen roten Schuhe an, setzt sich die rote Nase auf und macht Quatsch mit Musik. Seit einigen Jahren ist er mit dem
Programm unterwegs. „Aber solche Dankbarkeit wie dort habe ich noch nie erlebt.“Am häufigsten höre er danach den Satz: „Kommt Ihr bitte wieder!?“
Es begann im April 2022 in Freiburg im Breisgau, wo beider Tochter Paulina als Tänzerin lebt. In drei Bussen kamen 157 Heimkinder aus Butscha an. Paulina holte Anatolis musikalischen Zirkus, in dem sie mitspielt, wenn es sich ergibt, dorthin. Bald darauf spielte Anatoli vor ukrainischen Flüchtlingen in Polen. Schließlich ging es nach Kiew, seine Heimatstadt, wo der Onkel gestorben
war. Von der Haushaltsauflösung brachte er zwei Autoladungen in eben jenes Kinderheim, das evakuiert worden, nun aber voller Flüchtlinge aus Osten war.
Familiengruppe „Die zwei Verrückten und ich“
Er trat auch im Kiewer Mutter-Kinder-Klinikum mit seinen 1500 Betten auf, einige Kinder saßen im Rollstuhl, einigen fehlten Hände oder Beine. Der erste Auftritt fand nach einem Luftalarm im Keller statt. Ostern 2023 war er wieder dort, diesmal mit Viola. Wieder Luftalarm. Viola ging gerade, wie viele andere, im Stadtpark spazieren und bekam gar nichts davon mit, erst durch ihre Tochter, deren App auf dem Handy in Freiburg den Alarm anzeigte. Paulina ist nicht ganz so glücklich über diese Reisen ihrer Eltern. Die Familiengruppe bei WhatsApp hat sie „Die zwei Verrückten und ich“genannt.
Anatoli kam 1986 als Militärmusiker der Sowjetarmee nach Weimar. „Ich bin mit der Trompete einmarschiert“,
scherzt er heute darüber. Er konnte dann an der LisztHochschule studieren. In Kiew sprach er immer russisch, in der Schule gab es eine Stunde Ukrainisch pro Woche. Inzwischen intensiviert er seine Kenntnisse und hört sich Selenskys tägliche Ansprachen an. „Nur dank diesem Mann gibt es die Ukraine überhaupt noch“, sagt Anatoli.
Der Krieg ist alltäglich geworden, fast normal. „Jeden Tag gibt es Luftalarm, die Leute reagieren schon gar nicht mehr darauf.“Ja, alle warteten ganz gewiss doch auf ein baldiges Ende. Das sei aber bislang nicht abzusehen. „Es hört nicht auf; Putin hat noch zu viele Raketen, zu viel Munition.“Und die Ukrainer seien unter solchen Umständen bereit, für die Freiheit zu sterben. „Sollten sie etwa besser Putins Sklaven werden und dann ist alles okay!?“
Im Ferienlager bei Tjatschiw trugen die Betreuer Erkennungsschildchen an der Brust. „Neslamny“stand darauf zu lesen: „Hab keine Angst.“
So viele Geschichten. Du schaffst das gar nicht alles. Man kann ein bisschen helfen und muss dann weitergehen. Anatoli Michaelis über seine Begegnungen in der Ukraine