Thüringische Landeszeitung (Gera)
Bernhard Vogel zieht Lebensbilanz
Der Weg vom schlechten Schüler zum politischen Rekordhalter
Um eine Ahnung von der Ausnahmestellung Bernhard Vogels in der Geschichte der Bundesrepublik zu bekommen, genügen einige wenige Zahlen. Also: In den 23 Jahren, vier Monaten und fünf Tagen seiner Amtszeit als CDU-Ministerpräsident arbeitete er mit drei Kanzlern und 58 Ministerpräsidenten zusammen, einschließlich seines Bruders Hans-Jochen, dem Regierenden Berliner Bürgermeister, SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten.
Diesen Rekord hat bisher kein anderer Politiker brechen können, zumal Vogel gleich zwei Länder regierte: erst Rheinland-Pfalz, und dann natürlich Thüringen, sein „Abenteuer“, wie es Vogel auch in seinem neuen Buch nennt. Denn Vogel hat mit 91 Jahren erstmals seine Lebensbilanz vorgelegt – was sich in einer Zeit, in der 30-Jährige ihre dritten Memoiren vorlegen, als Beleg bewusster Selbstbeschränkung deuten lässt.
Diesen Eindruck verstärkt bewusst der Titel „Erst das Land“. Das Zitat stammt von Erwin Teufel, einem engen Freund Vogels. „Erst das Land, dann die Partei, dann die Person“, hatte der einstige Stuttgarter Regierungschef dekretiert. Für Vogel wurde der Satz zum Leitspruch und auch zu seinem Selbstbild, das er in seinen Memoiren zu vollenden versucht.
All die vielen Geschichten, die man von Vogel kennt und die er schon da oder dort veröffentlichte, bilden nun die geschlossene Erzählung von einem Kriegskind, das trotz Zweifeln des Vaters und schlechter Schulnoten Politikwissenschaftler wurde und es bis zur Promotion schaffte – nur, um dann in die praktische Politik gebeten zu
werden, erst in den Heidelberger Stadtrat, dann in den Bundestag und dann ins Kabinett von Rheinland-Pfalz, wo er Helmut Kohl als Ministerpräsident nachfolgte.
Ohnehin ist Vogels Karriere ohne den späteren Kanzler, den er schon als Kommilitonen kannte, nicht einmal zu denken. Dabei war es nicht so, dass er von Kohl nur gefördert wurde. Selbst für das Thüringer Ministerpräsidentenamt
war er nur dessen zweite Wahl.
Vogel beschreibt auch dies in seiner lesenswerten Lebenserzählung, allerdings ohne jeden Groll, sondern ausschließlich mit Respekt. Überhaupt übt er – mit Papst Benedikt als bemerkenswerte Ausnahme – an niemandem ernsthaft Kritik, sich selbst generös eingeschlossen. Dass er im Februar 2020 vor der Ministerpräsidentenwahl als Ehrenvorsitzender der CDU der Landtagsfraktion riet, im dritten Wahlgang Thomas Kemmerich zu wählen, verteidigt er erneut. Nicht die Abstimmung, schreibt er, habe zum Tabubruch geführt. „Der Tabubruch erfolgte, weil Kemmerich die Wahl zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD annahm.“