Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Wortgirlanden
Merkels klares Wort fehlt nach wie vor
Der Ton ändert sich nicht sonderlich überraschend. Kanzlerin Angela Merkel beginnt, darüber zu sprechen, dass Fehler gemacht worden sind – ein Jahr nach ihrem legendären Satz „Wir schaffen das“merkt sie offenbar, dass sich die sogenannte Flüchtlingskrise eben nicht einfach mit beruhigenden Worten erledigen lässt.
Stabilität im Land ist längst nicht in Sicht, auch wenn die Zugangszahlen deutlich gesunken sind. Zu aufgeheizt ist die Stimmung vielerorts. Merkel weiß das. Deshalb beginnt sie nicht zufällig damit, Fehler einzugestehen. Die sucht sie allerdings nicht in der nahen Vergangenheit. Sie schaut weiter zurück und mag wohl damit richtig liegen, dass Deutschland in den frühen 2000erJahren weggeschaut hat, als bereits einmal zahlreiche Menschen nach Europa flüchteten. Aber Angela Merkel bleibt nach wie vor dabei: „Wir schaffen das“mit Blick auf die Politik des vergangenen Jahres.
Sie ignoriert dabei die Stimmung, in deren Woge sich viele Menschen zu Menschenhassern aufschwingen. Es sind jene, die von Neid und Missgunst derart durchzogen sind. Sie merken gar nicht, dass ihnen im vergangenen Jahr nichts weggenommen wurde. Es sind jene Menschen, die Hasspredigern, wie wir sie in Thüringen und Sachsen Woche für Woche im umgebauten Brötchenauto durchs Land fahren sehen, blindlings hinterherrennen ... Wie man diesen begegnet? Längst hätten auch von der Kanzlerin Probleme – zum Beispiel die gestiegene Zahl der Straftaten – deutlich benannt werden müssen. Das Flüchten in immer neue, fein gebundene Wortgirlanden wirkt für jene, die sich wirklich sorgen, wie blanker Hohn.
Bis eben lief es ganz gut für Manuela Schwesig. Die Familienministerin und SPD-Vizechefin trägt freundlich lächelnd Geleistetes und Geplantes ihrer Partei vor, vom Mindestlohn bis zur Kinderbetreuung. Die drei Dutzend Zuhörer bei der Wahlkampfversammlung in Neubrandenburg hören aufmerksam zu – bis ein Sturzregen auf das Zeltdach niedergeht und der Bratwurststand hektisch geräumt werden muss. Da ruft Schwesig in die Aufregung: „Das ist die Rache der AfD!“Es soll ein Spaß sein, aber so richtig lacht kaum jemand.
So geht es jetzt öfter in den letzten Tagen des Landtagswahlkampfs in MecklenburgVorpommern: Vor der Abstimmung am Sonntag ist der erwartete Wahlerfolg der Rechtspopulisten überall ein Thema. Auch Kanzlerin Angela Merkel zeigt sich öffentlich besorgt. Ihre CDU müsse um enttäuschte Wähler kämpfen, die sich der AfD nahe fühlten, mahnt sie bei einer Veranstaltung in Schwerin. Die CDU müsse diese Wähler „immer wieder ansprechen, Lösungen zeigen und Taten“, sagt die Parteichefin.
Vermutlich ist es für dieses Mal zu spät. Im Nordosten steht die AfD vor einem Triumph: Sie könnte die CDU erstmals als zweitstärkste Kraft überflügeln. In jüngsten Umfragen kommen die Rechtspopulisten auf 21 Prozent. Die CDU ist auf einen neuen Tiefstand von 22 Prozent abgestürzt. Da sich mancher AfDWähler ungern offenbart, dürfte die Partei am Wahlsonntag noch zulegen.
Die SPD dürfte zwar deutlich verlieren, wäre aber mit 28 Prozent wieder stärkste Partei – Ministerpräsident Erwin Sellering könnte im Amt bleiben, wenn auch unter schwierigeren Bedingungen. Ob er die bisherige große Koalition fortführen würde, ist offen.
Der Machtkampf in der Bundespartei scheint die AfD-Wähler nicht abzuschrecken. Spitzenkandidat Leif-Erik Holm, früher Moderator beim Sender Antenne MV, versteht es, scharfe Parolen freundlich zu vermitteln. Der 46-Jährige warnt vor „Überfremdung“, dem „Verlust der deutschen Identität“und dem „kulturellen Untergang des Landes“.
Die Angst vor Kriminalität und das „Asylchaos“sind zentrale Themen im Wahlkampf, Landespolitik spielt kaum eine Rolle. Die Wahl wird zur Abrechnung mit Merkels Flüchtlingskurs.
CDU-Spitzenkandidat und Innenminister Lorenz Caffier kann den Attacken auf die Kanzlerin wenig entgegensetzen. Sein Versuch, mit der Forderung nach einem Burka-Verbot Boden gutzumachen, ging schief. In dem Land gibt es so gut wie keine verschleierten Frauen und auch nur wenige Flüchtlinge. Nicht einmal 25000 sind in Mecklenburg-Vorpommern bislang aufgenommen worden. Doch Wahlkämpfer berichten erschrocken, mit welcher Empörung selbst gut situierte Bürger über die Migranten reden.
Die Aussicht auf Platz zwei sei „natürlich von großer symbolischer Bedeutung“, sagt AfD-Vize Alexander Gauland. Beinahe verzweifelt halten die anderen Parteien dagegen. „Zumindest aus Frauensicht ist diese Partei nicht wählbar“, ruft SPD-Frau Schwesig bei einer Veranstaltung auf Usedom. Das Familienbild der AfD sei rückständig.
Aber um solche Fragen geht es vielen Anhängern der Rechtspartei gar nicht – etwa ein Drittel der AfD-Wähler ist mit dem seit acht Jahren regierenden Sellering ausdrücklich zufrieden. Der Ministerpräsident ist Westdeutscher, er kommt aus der Nähe von Bochum. Ein Menschenfänger ist er nicht, aber seine Bilanz ist ordentlich. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, die Wirtschaft wächst, seit zehn Jahren macht das Bundesland keine neuen Schulden mehr.
Auch Schwesig weist auf diese Erfolge hin, wo immer sie auftritt. Für sie ist der Wahlkampf nicht nur ein Heimspiel, es geht auch um ihre persönliche Zukunft. Sie war hier fünf Jahre Sozialministerin. Jetzt klappert sie jeden Wahlkreis ab, um die Genossen zu unterstützen – und ihre eigene Popularität auszubauen: Sie gilt als aussichtsreichste Nachfolgerin im Ministerpräsidentenamt, wenn Sellering nach einem Wahlerfolg in ein paar Jahren sein Amt aufgibt.
„Obwohl es uns ökonomisch gut geht wie selten zuvor, sind wir uns unserer selbst, unserer Identität nicht sicher genug.” Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU)