Thüringische Landeszeitung (Gotha)
„Dix und Dix“und die Dörfer
Der Dichterin Annerose Kirchner zum 65.
Chaotisch ist das Schreiberleben. Annerose Kirchner liebt es, inmitten von Papierbergen zu hausen. Papier in Form von Büchern, Zeitungen, Manuskripten, Grafiken und Drucken füllt die Regale, den Schreibtisch und stapelt sich auf dem Fußboden ihrer Geraer Wohnung. Die Lyrikerin lebt mit und von diesen Bergen und produziert auch selber welche.
Als in der Edition Neue Texte des Berliner Aufbau-Verlags ihr erster Gedichtband erschien, war sie 28. Inzwischen schaut Kirchner auf neun Bücher, darunter auch Künstlerbände und literarische Reportagen.
Der eigenwillige Ton, ihre landschaftliche Gebundenheit und ihr leidenschaftliches Interesse für Handwerksberufe haben Wulf Kirsten, ihren Förderer, für ihre Poesie eingenommen. Geprägt haben sie zudem Gedichte von Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Johannes Bobrowski, Günter Eich und Sarah Kirsch, wie sie selber sagt.
Die gebürtige Sächsin ist im Thüringer Wald in Zella-Mehlis aufgewachsen und hat am Literaturinstitut „Johannes R. Becher“in Leipzig studiert. Mit „Werkstätten“war bereits im ersten Buch ein Zyklus überschrieben, in dem sie selten gewordene Berufe wie Schuster, Scherenschleifer, Seilermeister und Weichenschlosser erkundete. Später veröffentlichte sie, die einige Jahre als Tastomatensetzerin in einer Zeitungsredaktion tätig war, Bände mit Handwerkerporträts.
Sie heuerte als Dramaturgin am Geraer Theater an, nahm an internationalen Poesiefestivals teil und arbeitete lange an ihrem zweiten Lyrikband, der 1989 unter dem Titel „Im Maskensaal“erschien. Als freie Autorin machte Kirchner nach der Wende die Erfahrung, dass Poesie allein den Dichter nicht ernährt. Seitdem verdient sie sich mit Literaturkritiken für die Ostthüringer Zeitung ein Zubrot. Sie schrieb weiter, neben Gedichten auch Reportagen mit klangvollen Titeln wie „Der Rausspeller“(1999), Geschichtenbände, etwa „Traumzeit an der Geba“(2005), oder das kuriose Werk „Dix und Dix. Auf den Spuren eines Familiennamens“. Längst hat sie ihr Thema gefunden: der Mensch in der sich wandelnden dörflichen Welt.
Ihr erfolgreichstes Buch ist 2010 im Ch. Links-Verlag erschienen: „Spurlos verschwunden. Dörfer in Thüringen – Opfer des Uranabbaus“. Annerose Kirchner hat dafür akribisch recherchiert. Sie fand nur noch wenige papierne Quellen, kaum Fotos, denn Fotografieren war im Umfeld der Wismut verboten. Also marschierte sie los, um Zeitzeugen aus Gessen, Schmirchau, Lichtenberg, Culmitzsch, Katzendorf und Sorge zu befragen und deren Schicksale ins kollektive Gedächtnis einzuspeisen. Für jedes verschwundene Dorf porträtierte die Autorin einen ehemaligen Bewohner.
Auch mit 65 schaut sie noch gern nach vorn. Ein neuer Porträtband über Thüringer Dörfer entsteht. Und ein weiterer Gedichtband harrt seiner Vollendung. Gern zitieren wir noch einen Vers, der ihr sportlich-poetisches Credo umreißt: „Die durchwanderten Täler im Rücken, / heb ich die Dörfer auf meinen Spann / und trag sie ins Haus.“Und von dort zu ihren Lesern, die herzlich gratulieren.