Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Auf der Insel Europa wird zu viel geredet
Kunstfest Weimar: Theaterprojekt „Kula“mit Franzosen, Deutschen und Afghanen wird als Kooperation mit dem DNT in der Redoute gezeigt
Als es zu Ende ging, da ließ der Alte den Becher fallen – und sinken tief ins Meer. Dort, in Tiefen auch der Erinnerung, hebt ihn die Weimarer Schauspielerin Elke Wieditz empor.
Vor sehr langer Zeit hatte sie begonnen, für lange Zeit Fausts Gretchen zu sein und vom König der Insel Thule zu singen, dem die sterbende Geliebte den Becher schenkte. Zum Premierengeschenk gemacht wurde der Wieditz damals: ein Becher. Ihn bietet sie an als Geschenk und damit auch – da ihre neue Rolle bedeutet, sie selbst zu sein – ihre Geschichte und das Lied dazu.
Sie singt es auf spiegelglattem Podest, das aus lauter Hockern besteht und wie eine Insel wirkt auf Eva-Maria van Ackers Bühne. Die Oberfläche reflektiert Licht, lässt’s schimmern und flirren. Diese Insel könnte auf Meeresgrund gesunken sein.
Sie ist jedenfalls: Europa. Die Frage bleibt an diesem Abend: ob dies ein Sehnsuchtsort ist oder Endstation, ob wir oben sind oder unten, noch durstig oder schon ertrunken – wie Flüchtlinge in Booten, die ein angeblich volles Boot ansteuern. Oder, da dieses Stück ja „Kula – nach Europa“heißt: Während es Massen sehnsuchtsvoll nach Europa zieht, fragt man sich dort, was wohl kommt in einer Zeit nach Europa. Und dann zitieren sie Brecht: „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme, ich bin nicht gern, wo ich hingehe.“
Aus dem Zweifeln und Zaudern, Hoffen und Träumen erwächst eine große Kraft. Sie lässt zehn Schauspieler aus Frankreich, Deutschland und Afghanistan unter Robert Schusters Regie wie selbstverständlich zu einem Ensemble werden, zu einer Compagnie, die bereit ist, eine gemeinsame Welt gemeinsam zu imaginieren auf einer Bühne. Sie ist ihre Insel, umspült von Wellen, die sie mit Händen in den Wassereimern behaupten.
So wäre, mit einfachen Mitteln, der Boden eigentlich bereitet für ein ausdrucksstarkes Stück mit Schauspielern, die sich politisierten – oder politisieren lassen mussten – durch Krieg und Terror und Flucht und viele Fragen an Demokratie und Freiheit, und die Auswege suchen in der Kunst. Dieses Stück schimmert auch immer wieder durch – und mit ihm dessen Idee: Kulturaustausch auf dem Theater, wo sie „Kula“auf Europäisch übersetzen, jenes Ritual auf pazifischen Inseln, wo man Geschenke tauscht, an denen Geschichten kleben. Sie tauschen persönliche Erlebnisse und Fragen.
Allerdings drängt sich schnell und machtvoll ein gemeinsames Erlebnis in den Vordergrund: fünf abwesende Afghanen vom Azdar-Theater, die nicht Teil des neunmonatigen Projektes werden durften, weil die deutsche Botschaft in Kabul „Zweifel an den Rückkehrabsichten“hegte.
Auf fünf leeren Stühlen vollzieht man mit umfangreicher Korrespondenz dazu den Verwaltungsvorgang nach, durchaus darum bemüht, einen Theatervorgang daraus zu machen. Aber das gelingt nicht so recht.
Mit den Afghanen ist auch das Theater zu oft abwesend. Es dominiert der politische Diskurs. „Wir haben die Möglichkeit, zusammen zu spielen“, hören wir. Sie reden aber vor allem. Der mehr als zweistündige transnationale Verständigungsversuch beruht einfach auf viel zu viel Text, der unbedingt verstanden werden will. Also braucht’s deutsche Übertitel fürs Französische, Englische, Persische.
Spannender wäre ein Theater, dass sie eben nicht bräuchte.
Abwesende Afghanen stehen im Vordergrund
Nächste Aufführungen: heute, 19.30 Uhr, sowie 8. bis 11. September. Die Aufführung morgen fällt aus.