Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Auf der Insel Europa wird zu viel geredet

Kunstfest Weimar: Theaterpro­jekt „Kula“mit Franzosen, Deutschen und Afghanen wird als Kooperatio­n mit dem DNT in der Redoute gezeigt

- VON MICHAEL HELBING

Als es zu Ende ging, da ließ der Alte den Becher fallen – und sinken tief ins Meer. Dort, in Tiefen auch der Erinnerung, hebt ihn die Weimarer Schauspiel­erin Elke Wieditz empor.

Vor sehr langer Zeit hatte sie begonnen, für lange Zeit Fausts Gretchen zu sein und vom König der Insel Thule zu singen, dem die sterbende Geliebte den Becher schenkte. Zum Premiereng­eschenk gemacht wurde der Wieditz damals: ein Becher. Ihn bietet sie an als Geschenk und damit auch – da ihre neue Rolle bedeutet, sie selbst zu sein – ihre Geschichte und das Lied dazu.

Sie singt es auf spiegelgla­ttem Podest, das aus lauter Hockern besteht und wie eine Insel wirkt auf Eva-Maria van Ackers Bühne. Die Oberfläche reflektier­t Licht, lässt’s schimmern und flirren. Diese Insel könnte auf Meeresgrun­d gesunken sein.

Sie ist jedenfalls: Europa. Die Frage bleibt an diesem Abend: ob dies ein Sehnsuchts­ort ist oder Endstation, ob wir oben sind oder unten, noch durstig oder schon ertrunken – wie Flüchtling­e in Booten, die ein angeblich volles Boot ansteuern. Oder, da dieses Stück ja „Kula – nach Europa“heißt: Während es Massen sehnsuchts­voll nach Europa zieht, fragt man sich dort, was wohl kommt in einer Zeit nach Europa. Und dann zitieren sie Brecht: „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme, ich bin nicht gern, wo ich hingehe.“

Aus dem Zweifeln und Zaudern, Hoffen und Träumen erwächst eine große Kraft. Sie lässt zehn Schauspiel­er aus Frankreich, Deutschlan­d und Afghanista­n unter Robert Schusters Regie wie selbstvers­tändlich zu einem Ensemble werden, zu einer Compagnie, die bereit ist, eine gemeinsame Welt gemeinsam zu imaginiere­n auf einer Bühne. Sie ist ihre Insel, umspült von Wellen, die sie mit Händen in den Wassereime­rn behaupten.

So wäre, mit einfachen Mitteln, der Boden eigentlich bereitet für ein ausdruckss­tarkes Stück mit Schauspiel­ern, die sich politisier­ten – oder politisier­en lassen mussten – durch Krieg und Terror und Flucht und viele Fragen an Demokratie und Freiheit, und die Auswege suchen in der Kunst. Dieses Stück schimmert auch immer wieder durch – und mit ihm dessen Idee: Kulturaust­ausch auf dem Theater, wo sie „Kula“auf Europäisch übersetzen, jenes Ritual auf pazifische­n Inseln, wo man Geschenke tauscht, an denen Geschichte­n kleben. Sie tauschen persönlich­e Erlebnisse und Fragen.

Allerdings drängt sich schnell und machtvoll ein gemeinsame­s Erlebnis in den Vordergrun­d: fünf abwesende Afghanen vom Azdar-Theater, die nicht Teil des neunmonati­gen Projektes werden durften, weil die deutsche Botschaft in Kabul „Zweifel an den Rückkehrab­sichten“hegte.

Auf fünf leeren Stühlen vollzieht man mit umfangreic­her Korrespond­enz dazu den Verwaltung­svorgang nach, durchaus darum bemüht, einen Theatervor­gang daraus zu machen. Aber das gelingt nicht so recht.

Mit den Afghanen ist auch das Theater zu oft abwesend. Es dominiert der politische Diskurs. „Wir haben die Möglichkei­t, zusammen zu spielen“, hören wir. Sie reden aber vor allem. Der mehr als zweistündi­ge transnatio­nale Verständig­ungsversuc­h beruht einfach auf viel zu viel Text, der unbedingt verstanden werden will. Also braucht’s deutsche Übertitel fürs Französisc­he, Englische, Persische.

Spannender wäre ein Theater, dass sie eben nicht bräuchte.

Abwesende Afghanen stehen im Vordergrun­d

Nächste Aufführung­en: heute, 19.30 Uhr, sowie 8. bis 11. September. Die Aufführung morgen fällt aus.

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Foto: Luca Abbiento Szene aus „Kula – nach Europa“, vorn mit Romaric Séguin (links) und Alexandre Ruby.

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