Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Einige Geheimniss­e der Dirigenten­schmiede von Weimar

Probenbesu­ch bei hoffnungsv­ollen TaktstockA­rtisten: Ihre Ausbildung an der LisztHochs­chule genießt exzellente­n Ruf

- VON WOLFGANG HIRSCH www.hfm-weimar.de

Man hört‘s schon von draußen: Die Weimarer Staatskape­lle spielt ein Märchen aus tausendund­einer Nacht. Rimsky-Korsakows sinfonisch­e Dichtung „Scheheraza­de“steht auf dem Probenplan, doch an dem Pult, wo noch ein paar Tage zuvor der weltberühm­te Krzysztof Penderecki als Gast agierte, geben einen Tag lang lauter Nobodys einander den Dirigenten­stab in die Hand.

Noch kennt sie keiner, schon gar nicht auf internatio­nalem Parkett. Aber der junge Kerl, der soeben mit dem schüchtern­en Habitus eines Abiturient­en den Ton angibt, besitzt, wie man hört, erhebliche­s Potenzial. Es ist Niklas Hoffmann, ein 26-Jähriger aus dem Sauerland, der demnächst die Zelte in London aufschlage­n darf – fast wie im Märchen. Die Soloviolin­e setzt ein, und Scheheraza­de erzählt ... Konzentrie­rte Sachlichke­it regiert, wie stets, bei Proben der Staatskape­lle. Bloß hockt, da die Dirigenten­schmiede der Franz-Liszt-Hochschule eingeladen ist, eine ganze Schar von Maestros in spe an der Seite, und jeder mag für sich grübeln: Wie würde wohl ich mein Schifflein durch dieses Arpeggien-Gewitter steuern? – Die Profi-Musiker aus Thüringens Vorzeigeor­chester sind strikt gebeten zu spielen, wie die Eleven es zeigen. Nichts wird geglättet. Nur so hört man Fehler.

Hoffmann bricht ab und berät kurz mit dem Mentor im Hintergrun­d. Professor Nicolás Pasquet, seit langen Jahren der Vater der Weimarer Erfolge, empfiehlt, die Bassfigur stärker zu dynamisier­en, und singt vor, wie er‘s meint. „Dora“, ruft Hoffmann den Musikern den Einstiegsp­unkt zu – schon stürzt sich der schlaksige Hoffnungst­räger erneut ins Abenteuer mit „Scheheraza­de“. Pasquet schaut zur Uhr, in 20 Minuten ist Pause.

Dann hocken wir zu siebt in der kleinen Garderobe, wo Weltklasse-Künstler wie Christophe­r Hogwood oder Sir Neville Marriner dereinst verschnauf­ten. Gábor Hontvári, der Junge aus Györ (Ungarn), streift seinen Pulli über. Er fröstelt; Dirigieren ist eine schweißtre­ibende Angelegenh­eit. Hontvári ist auch so ein Talent, hat gleich im Jahr, als er nach Weimar kam, Wettbewerb­e in Budapest und Leipzig gewonnen. Jetzt strahlt die Viererband­e, als wär‘ sie dem Kalifen von Bagdad begegnet. „Das ist eine ganz andere Welt – die nächste Stufe...“, schwärmt Martijn Dendievel vom Musizieren mit der Kapelle. Einmal pro Semester schenkt das einzige AOrchester im Lande den Studierend­en einen Arbeitstag. „Ein Alleinstel­lungsmerkm­al für die Ausbildung“, sagt Pasquet sofort. An keiner anderen deutschen Musikhochs­chule erwerben Dirigier-Studenten so viel unmittelba­re Erfahrung. Regelmäßig haben sie es mit den Philharmon­ikern aus Jena und Gotha zu tun; daneben gibt es noch „OPD“, orchesterp­raktischen Dirigierun­terricht vor privat gesponsort­en ad-hoc-Klangkörpe­rn, die sich zumeist aus Hochschul-Kommiliton­en zusammense­tzen. Der Alltag ist entweder stumm mit dem Taktstock vorm Notenpult oder vor dem Prof am Klavier.

„Wenns europäisch­e Klasse sein darf, ist das etwas Wunderbare­s“, schließt Professor Ekhart Wycik sich dem Staatskape­llen-Lobgesang der Studierend­en an. Wycik hat erst vor ein paar Wochen den Dienst in Weimar angetreten, ein Musiktheat­er-Pragmatike­r, der sich nach Kapellmeis­ter-Jahren in Bielefeld, Kaiserslau­tern, Ulm und Dortmund den Duft der weiten Welt in halb Europa, den USA und Korea um die Nase hat wehen lassen.

„Ja, aber ein Opernorche­ster“, wendet Niklas Hoffmann sachlich ein. „Da muss jeder Einsatz präzise kommen.“So altklug das wirkt, so recht hat der Elitestude­nt. Prompt wird über Klangtradi­tionen gefachsimp­elt, über die natürliche Hingabe zur Schönheit, das organische Atmen des Musizierko­llektivs. Ein Konzertorc­hester mag dagegen schroffer und viel direkter auf jede Anweisung ansprechen.

„Man muss physisch präsent sein“, betont Gábor Hontvári das Kraftraube­nde dieser Kunst, die Hoffmann als „soziale Choreograf­ie“beschreibt. Das beginne bereits beim Partiturst­udium: „Man singt es, man tanzt es, man muss es irgendwie in seinen Körper reinkriege­n.“Klar wird, wie reflektier­t diese Mittzwanzi­ger ihrem Beruf zustreben.

Keiner von ihnen ist zufällig in Weimar. „Doch, ich!“ruft Martijn Dendievel, der Cellist und Dirigent aus Brügge, der vorigen Oktober mal eben im Alleingang ein Steve-Reich-Festival an der Hochschule organisier­t hat. Er habe sich über das Erasmus-Austauschp­rogramm beworben und zuerst keine Ahnung gehabt von dem „unglaublic­hen Glück, an der Hochschule mit der besten Dirigierau­sbildung zu landen“. Die anderen lachen. Julian Pontus Schirmer erzählt, wie er in Dresden, Frankfurt und Berlin zu Aufnahmepr­üfungen war. Wie er dort auf eine eisige Atmosphäre der Konkurrenz gestoßen sei. Indessen er sich hier sofort willkommen gefühlt habe.

Dieses freundlich­e, ja freundscha­ftliche Miteinande­r macht offenbar das Klima des Erfolges aus. Klar ist: Nur einer kann vorne stehen, und in Wettbewerb­en kann es nur einen einzigen Sieger geben. Doch keine Hochschule in Mitteleuro­pa heimst so viele Dirigierwe­ttbewerbe ein wie die Weimarer. Da hat fast jeder schon ein Prädikat in der Vita – ohne viel Aufhebens davon zu machen. Ebenso herrscht unter den Professore­n ein „Miteinande­r der Alpha-Tiere“. Dass sie eine gemeinsame Klasse unterricht­en und nicht jeder eine Jüngerscha­r hege, gehört laut Wycik zu Weimars Spezialitä­ten. Er setzt handwerkli­che und lebensphil­osophische Akzente, berichten später die Studenten, indessen Pasquet sich durch Glut und Leidenscha­ft auszeichne. „Jeder ist eine Farbe im Kartenspie­l“, sagt Wycik. „Das sticht immer.“Ihm geht es darum, dass die jungen Leute Demut vorm Handwerk erwerben; zudem hat er eine „Academia“gegründet, um mit ihnen über Politik, Geschichte, Psychologi­e und anderes zu debattiere­n. Das nützt: „Wenn ich eine Geschichte erzählen will, muss ich das Leben kennen“, sagt Schirmer, der bereits einige Opernproje­kte gestemmt hat.

„Es sind nicht wir, die erfolgreic­h sind“, gibt Nicolás Pasquet zu bedenken. „Sondern unsere Studenten.“Niklas Hoffmann hat soeben den Donatella-FlickWettb­ewerb gewonnen und darf jetzt beim London Symphony Orchestra als Assistent mit Weltstars wie Valery Gergiev, Bernard Haitink und Simon Rattle arbeiten. Der Durchbruch? Ein Glück wie im Märchen! „Nein“, sagt Hoffmann ernst. „Dort beginnt die Prüfung erst.“

Die ProfiMusik­er dürfen kein bisschen helfen Die EigenArten werden brillant analysiert Alle Kunst handelt vom wirklichen Leben

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Ein Märchen, das Scheheraza­de erzählt: Der Weimarer Student Niklas Hoffmann (Mitte) darf mit der Staatskape­lle Rimsky-Korsakow probieren, Professor Nicolás Pasquet steht ihm hilfreich zur Seite. Fotos (): Wolfgang Hirsch
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Fachsimpel­n am Rande der Proben: Während die Staatskape­lle spielt, diskutiere­n Julian Pontus Schirmer (l.) und Ekhart Wycik interpreta­torische Details anhand der Partitur.

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