Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Ärzte unter Verdacht
Techniker Krankenkasse: Die Zahl der Versicherten, die sich als Opfer falscher Behandlung sehen, steigt um 26 Prozent
Ein Arzt zieht aus Versehen seinem Patienten den falschen Zahn. Der Chirurg amputiert das rechte statt das linke Bein. Ein Tupfer wird bei einer Magenoperation im Bauchraum vergessen. Wo Menschen agieren, passieren Fehler. Auch bei Ärzten. Allerdings gehen immer mehr betroffene Patienten aktiv gegen solche Fehlleistungen vor.
Die Zahl der Verdachtsfälle auf Behandlungsfehler ist bei der Techniker Krankenkasse (TK) im vergangenen Jahr um 26 Prozent auf 4400 Fälle gestiegen – und hat damit um 900 zugenommen. Die meisten Verdachtsfälle wurden im chirurgischen Bereich mit 1372 Fällen gemeldet. Danach folgen die Zahnärzte mit 606 Verdachtsfällen, die Allgemeinmediziner (382), Orthopäden (378), Gynäkologen (222) und Augenärzte (155), berichtet die mit 9,8 Millionen Versicherten größte deutsche gesetzliche Krankenkasse TK dieser Zeitung. Insgesamt konnte die Techniker Krankenkasse im vergangenen Jahr 14 Millionen Euro von Ärzten und Kliniken für die Folgekosten nach falschen Behandlungen zurückfordern.
Doch nicht jeder Verdacht entpuppt sich als tatsächlicher Behandlungsfehler. Den starken Anstieg der Meldungen führt die Techniker Krankenkasse vor allem auf ein größeres Rechtsbewusstsein ihrer Mitglieder zurück. So habe die TK verstärkt über Hilfsangebote bei möglichen Fehlbehandlungen informiert. „Wir gehen fest davon aus, dass sich die Versorgung in den Krankenhäusern und Arztpraxen nicht in diesem Ausmaß verschlechtert hat“, sagte der TK-Medizinrechtsexperte Christian Soltau. Insgesamt haben Schlichtungsstellen im Jahr 2015 über 7215 mutmaßliche Ärztefehler entschieden. Dabei lag nach Angaben der Bundesärztekammer in 2132 Fällen tatsächlich ein Behandlungsfehler vor. Nach dem neuen Patientenrechtegesetz sind gesetzliche Krankenkassen verpflichtet, ihre Patienten bei möglichen Beratungsfehlern zu unterstützen. Dies kann beispielsweise durch die Finanzierung eines ärztliches Gutachtens erfolgen. So hat die Techniker Krankenkasse 2016 insgesamt 1492 Gutachten für ihre Patienten beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) erstellen lassen, nach 1460 im Vorjahr. 61 Fälle wurden konkret vor Gericht verhandelt.
Die Durchsetzung der Rechte bleibt dennoch kompliziert. Denn die Beweislast einer Fehlbehandlung liegt in der Regel vollständig bei den Patienten. Die Geschädigten sind in der Pflicht, mögliche Behandlungsfehler, Schäden und Zusammenhänge konkret nachzuweisen. „Es ist aber extrem schwierig, alle nötigen Beweise zu erbringen und erst recht angemessene Entschädigungen vor Gericht zu erwirken“, berichtet Ilona Köster-Steinebach, Gesundheitsexpertin von dem Verbraucherzentrale Bundesverband. Insbesondere Schäden, die durch mangelnde Hygiene oder Keime ausgelöst werden, seien fast gar nicht nachzuweisen. Viele Patienten schreckten zudem davor zurück, überhaupt einen Verdacht auf einen Behandlungsfehler zu äußern. „Die gemeldeten Verdachtsfälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Hürden der Beweislast sind sehr hoch, die Verfahren lang und die Entschädigungen eher moderat – und weit entfernt von Schadenersatzzahlungen in den USA.“
Auch die Krankenkassen wünschen sich mehr Unterstützung von Politik und Justiz. „Leider dauern diese Verfahren viel zu lang“, sagt Soltau. „Nicht selten vergehen fünf bis zehn Jahre, bis das Urteil feststeht.“Manche Betroffene könnten durch erlittene Behandlungsfehler nicht mehr arbeiten und seien finanziell in ihrer Existenz bedroht.
Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Karl-Josef Laumann plädiert dafür, dass Patienten schneller zu ihrem Recht kommen. „Derjenige, der einen Fehler macht, muss dazu stehen.“Das Wichtigste sei, so Laumann: „Wir müssen alles dafür tun, um aus den Fehlern zu lernen, damit diese sich nicht wiederholen.“Dazu brauche es in allen Medizinbereichen ein effektives und konsequent umgesetztes Risikomanagement.