Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Großer Vaterländischer Krieg und Roter Oktober
Am 22. Juni 1941 hat Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfallen. Einen Tag später erschien in der „Prawda“ein Artikel, geschrieben von Jemljan Jaroslawskij, dem Propagandisten Stalins und Vorsitzenden der „Gesellschaft der Gottlosen“. Der Artikel enthielt bereits die Formulierung vom „Großen Vaterländischen Krieg“. Diese Wortwahl war wohl bedacht. Sie knüpfte an den „Vaterländischen Krieg“von 1812 gegen die „Große Armee“Napoleons an, stellte zugleich aber mit dem Wort „Großer“Stalin über den Zaren Alexander I., der in den Jahren 1813/14 als „Retter Europas“gefeiert worden war.
Doch die Symbolik griff tiefer. Sie betonte den im Grundsatz russischen Charakter der Sowjetunion als Quelle für den zur Abwehr des Feindes notwendigen „Sowjetpatriotismus“, der sich alsbald „allslawischer“Elemente bediente, um die zuvor repressierte russischorthodoxe Kirche in die Front der Vaterlandsverteidiger einzureihen.
Doch die dem Gebot der Stunde folgende Besinnung auf die Traditionen der russischen Geschichte bedurfte der Verklammerung mit dem Roten Oktober von 1917, der die Sowjetunion legitimierte. Darum sagte Stalin in seiner Rede am 7. November 1941 zum 24. Jahrestag der Oktoberrevolution auf dem Roten Platz in Moskau: „Möge Euch in diesem Krieg das heldenmütige Vorbild eurer großen Vorfahren beseelen – das Vorbild Alexander Newskijs, Dmitrij Donskojs, Kusma Minins, Dmitrij Poscharskijs, Alexander Suworows, Michail Kutusows. Möge Euch das siegreiche Banner des großen Lenin Kraft verleihen!“Die Kontinuitätslinie von 1242 und 1380 über 1612 und 1812 zu 1917 und 1941 war damit gezogen.
Unter der Losung „vaterländisch“erlitten die Völker der Sowjetunion einen unendlich leidvollen Krieg. Die Erinnerung daran überlagert in Russland heute zum Teil das Gedenken an den „Roten Oktober“von 1917. Weder Jaroslawskij noch Stalin vermochten sich 1941 vorzustel len, dass eine politische Situation eintreten könnte, in der die UdSSR auch nach dem siegreich beendeten Krieg zerfällt und die unabhängig gewordenen Staaten, z.B. die Ukraine oder Weißrussland, den Begriff des „Großen Vaterländischen Krieges“nahtlos in ihre eigene offizielle Memorialkultur übernehmen könnten. Es gab ja keinen „Großen sowjetischen vaterländischen Krieg“.
Daraus resultierte für die postsowjetischen Herrscher in der Russischen Föderation, in der Ukraine und Weißrussland ein zweiter „Vorteil“: Nach der deutschen Kapitulation vom Mai 1945 wurden dem Standardbegriff „Großer Vaterländischer Krieg“die Jahreszahlen 19411945 angehängt. D.h., die verhängnisvollen Ereignisse zwischen August 1939 und Juni 1941 wurden ausgeblendet. Dazu zählten: der HitlerStalinPakt samt geheimem Zusatzprotokoll über die Aufteilung Ostmitteleuropas, der Einmarsch der Roten Armee in Polen, der deutschsowjetische Grenz und Freundschaftsvertrag, die zwischen Berlin und Moskau koordinierte deutschsowjetische Okkupation Polens, die Einverleibung Estlands, Lettlands, Litauens, Ostpolens, der Bukovina und Bessarabiens in die UdSSR oder die Lieferung kriegswichtiger Rohstoffe aus der Sowjetunion an Deutschland. Der ukrainische Präsident Leonid Kutschma fand 1992 für die Annexion Südostpolens durch die UdSSR bei Angliederung an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik im Herbst 1939 den Terminus „Goldener September“. Und unter dem belorussischen Präsidenten Lukaschenko wurde ernsthaft erwogen, den 17. September, an dem 1939 die Rote Armee in Polen einfiel, zum staatlichen Feiertag „der Wiedervereinigung der belarussischen Lande“zu proklamieren…
Die OsteuropaHistorikerin Jutta Scherer hat 2005 den ver haltenen Satz aufgeschrieben: „Russland (gemeint ist die heutige Russische Föderation) hat sich in erstaunlich kurzer Zeit von dem Mythos der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution befreit. Wird es sich jemals von dem Mythos des Großen Vaterländischen Krieges, der heroischen Heldentat des Siegs befreien können oder wollen?“
2017 sind weder das Erinnern an den Roten Oktober noch an den Großen Vaterländischen Krieg verblasst. Es gibt gewichtige Akzentverschiebungen. Doch warum soll man auch eine in der Vergangenheit schädliche selektive Geschichtsbetrachtung erneuern, wenn der Anspruch auf eine demokratische Gesellschaft erhoben wird?