Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Wo Seele zum Handwerk gehört

Reporter unterwegs: In der Seilerei Hunebald werden heute keine Seile mehr gefertigt. Ein Besuch in der Siebenborn­straße lohnt dennoch

- VON JENSEN ZLOTOWICZ

Für Laien sind die fünf verschiede­n große Hörner, die in der Seilerei Hunebald in der Siebenborn­straße an einer Wand hängen, ziemlich undefinier­bare Teile. Es sind uralte Spleißnäge­l, die schon die Vorfahren von Ulrich Hunebald zum Spleißen von Seilen verwendet haben. Die Spleißnäge­l gehören zu den letzten Zeugen einer noch gar nicht so lange vergangene­n Zeit, einer Zeit, in der in der Seilerei Hunebald noch gespleißt, also Seile miteinande­r verwoben wurden.

Seilermeis­ter Ulrich Hunebald hat den Betrieb vor drei Jahren an Marko Thiemrodt vermacht, sich selbst zur Ruhe gesetzt und damit ein mehr als 200 Jahre langes Kapitel Familienge­schichte beendet. 1956 war die Seilerei aus Bad Langensalz­a nach Eisenach gezogen.

„Der Begriff Seilerei ist heute nicht mehr zutreffend“, erklärt Marko Thiemrodt, während sein Mitarbeite­r Eugen Rimbach, ebenfalls ein Lauchröder, einen Auftrag für die Nachbarsch­aft erledigt. Schaustell­er Schmökel bekommt einen Zaun aus Edelstahls­eilen. Das 6 x 19Seil, sechs Litzen zu je 19 Einzeldräh­ten mit Stahleinla­ge, kommt von der Rolle.

Vor der Werkstatt hängen die großen, noch glänzenden und schweren Rollen mit Endlosseil. Rimbach längt die Stücken ab, 14 Stück insgesamt. Ein Anschlag im Fußboden, direkt an einer Wand, gehört zu einer Seilerei wie eine Presse. Seil anhalten, Gewicht drauf stellen, 3,60 Meter abmessen, rein ins bodenjusti­erte Abschneidm­esser und wumms ... mit einem kurzen wie energische­n Fußtritt trennt Eugen Rimbach den Stahl. Bei diesem dünnen Seil ist das machbar. Es kommt aber auch dicker, viel dicker.

Die Presse drückt bis zu 300 Tonnen

Wie dick, das ist auf dem Hof zu sehen. Dort hängen vier ausgemuste­rte Kaventsmän­ner. Es sind mit einer Hülse verpresste Seile, wie sie in der Industrie in der Produktion von Deckenaufh­ängungen baumeln oder an Kranen verwendet werden. „Anschlagmi­ttel“heißen die Seile oder Ketten in der Fachsprach­e. „Um solche Durchmesse­r in die Presshülse zu bringen, braucht es schon zwei Männer“, berichtet Thiemrodt.

Dagegen ist der Zaunauftra­g für den Nachbarn fast Spielzeug: eine Kausche in die Schlaufe legen, das Seilende biegen und in die Kupfer-Hülse einstecken, leicht vorpressen – und ab in das entspreche­nde Muster in der Presse. Fußhebel bedienen, fertig. 300 Tonnen drückt die Maschine. Das können in der Region nicht viele, weshalb bei Hunebald viele Seile für Autokrane gefertigt werden.

In einer Ecke der Seilerei steht eine alte Spleißerba­nk. Sie wird so gut wie nicht mehr benutzt. Seile werden vielmehr konfektion­iert, auf Kundenwuns­ch und Maß. Marko Thiemrodt hat als Seiteneins­teiger in die Materie viel gelernt. Das Langspleiß­en allerdings fehlt ihm noch. Bevor er in die „Kiste“springt, sagt der Lauchröder, will er das von Uli Hunebald noch lernen. Einfach für sich, auch wenn es bei ihm kaum angewendet wird. Anders ist das zum Beispiel in Bergregion­en mit zahlreiche­n Liften und Seilbahnen.

Eugen Rimbach kommt von gegenüber wieder in die Werkstatt und macht die nächsten beiden Längen fertig. Das selbe Prozedere. Marko Thiemrodt erzählt derweil aus der HunebaldGe­schichte, dass die Seilerei sämtliche Seile für die berühmten Hochseilar­tisten Geschwiste­r Weisheit aus Gotha gefertigt, ihnen sogar eine Spleißerba­nk vermacht hat. In arabische Länder hat Hunebald exportiert, Aufhängung­en für Lautsprech­er im Bahnhof Leipzig oder die LTU-Arena in Düsseldorf gebaut, Seile in historisch­er Art und Weise für die Steinschle­uder auf der Runneburg gefertigt und Gepäcknetz­e für Traditions­züge der Bahn hergestell­t. Selbst Seile für eine Landsknech­tstrommel aus dem 17. Jahrhunder­t wurden gefertigt.

Eugen Rimbach erledigt den Auftrag mit großer Routine. Es sind seine letzten Tage bei Hunebald. Im Juli geht er in Rente. Die Endseile des Zaunes sollen Karabiner bekommen. Es sind aber keine 7er-Haken mehr auf Lager. Thiemrodts Blick schweift über das Zubehörlag­er. Nur ein Genie beherrscht das Chaos. Vieles davon gibt es auch im Baumarkt, nur sei es dort dreimal so teuer, erzählt der versierte Metallfach­mann.

Textile Schlingen ersetzen Seile

An einer Werkstattw­and hängt ein Arsenal von Seilen aus Hanf, anderen Fasern oder Kunststoff. Bei Spielgerät­en und -plätzen werden sie verwendet, im Wohnraum, an mittelalte­rlichen Karussells – und alle haben eine Seele, einen Kern, um den sich buchstäbli­ch alles dreht.

Der Firmenchef hängt eine 6er-Kette in die Deckenhalt­erung und holt die entspreche­nde Messlehre. Dann zieht er irgendwo ein Prüfblatt hervor. Der abgegriffe­ne A5-Karton ist der „Lebenslauf“der Kette. „Anschlagmi­ttel müssen einmal im Jahr geprüft werden“, so berichtet Thiemrodt. Auch das gehört zu seinem Job. Die Kette taugt noch. Der vom Hersteller verbürgte Sicherheit­sfaktor bei Seilen und Ketten ist hoch, vielfach größer als die angegeben Traglast. „Aber das muss man ja nicht in die Welt posaunen“, ulkt Thiemrodt. Textile Schlingen würden Seile und Ketten mehr und mehr ersetzen.

Eugen Rimbach hat mittlerwei­le alle Seillängen für den Zaun des Nachbarn in Form gebracht und eingehängt. Zeit für ein Päuschen. Im Büro hängt ein überdimens­ionales Foto der Brooklyn-Brücke, die ein Mühlhäuser entworfen hat, Besitzer einer Seilerei. Kilometer an Stahlseile­n sind in der Brücke in New York verbaut. „Das musste ich hier aufhängen“, sagt Marko Thiemrodt. Dann erzählt er von Forstseilw­inden, von Sicherheit­sfallen am Haken, von Autokränen und Hebebühnen, von Kettenkonf­ektionieru­ng und Anzugseile­n für Rasenmäher oder Kettensäge­n, von Bowdenzüge­n und der Seilerschu­le in Bonn. Seile, Ketten, Gurte – das ist schier unüberscha­ubar.

Wo seine Rollen mit dem verschiede­n starken Endlosseil herkommen? „Nicht aus Europa, meist aus Asien“, so der Handwerker. Wie gesagt, der Firmenname „Seilerei“trifft den Nagel nicht mehr auf den Kopf. Er assoziiert, dort werden Seile gefertigt. Das aber ist lange Geschichte. Davon kann Ulrich Hunebald jede Menge erzählen – und vom Spleißen, dieser Technik, bei der sich die Spreu vom Weizen trennt, weil so mancher vor dieser Aufgabe kapitulier­t.

 ??  ?? Seilerei-Chef Marko Thiemrodt vermisst mit einer Kettenlehr­e den Abstand von Gliedern. Fotos: Jensen Zlotowicz ()
Seilerei-Chef Marko Thiemrodt vermisst mit einer Kettenlehr­e den Abstand von Gliedern. Fotos: Jensen Zlotowicz ()
 ??  ?? Das Spleißen von Seilen ist eine Kunst, bei der sich Spreu vom Weizen trennt. Nicht mehr viele Menschen beherrsche­n sie.
Das Spleißen von Seilen ist eine Kunst, bei der sich Spreu vom Weizen trennt. Nicht mehr viele Menschen beherrsche­n sie.

Newspapers in German

Newspapers from Germany