Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Mit 17 deportiert
Magda Browns Eltern wurden in Auschwitz ermordet – Sie überlebte den Holocaust in einem BuchenwaldAußenlager
Familie Perlstein aus Miskolc in Ungarn wurde am 11. Juni 1944 deportiert. Es war der Tag, an dem Magda 17 wurde. Es hieß, dass sie in ein anderes Land zum Arbeiten gebracht werden sollten. Doch im engen Viehwaggon ging es nach Auschwitz – und dort wurde die junge Magda nicht nur vom Vater, sondern auch von der Mutter und der Großmutter getrennt. Den letzten Blick, den sie wechselten, hat sie noch immer vor Augen. Zur Mutter sagte die Tochter: Bis später... „Ich sah sie nie wieder“, sagt Magda, die längst nicht mehr Perlstein, sondern Brown heißt. Sie überlebte den Holocaust – und wurde nach der Befreiung von ihren amerikanischen Verwandten aufgenommen.
Magda Brown ist seit sieben Jahrzehnten in Chicago zu Hause – und nach einem erfüllten Berufs- und Familienleben hat sie begonnen, öffentlich über das Zeugnis abzulegen, was ihr und vielen anderen ungarischen Jüdinnen und Juden angetan worden ist. „Ich spreche mit einer Person wie vor Tausend“, sagt sie, als wir uns im Hotel „Kaiserin Augusta“in Weimar treffen. Die Frau des Jahrgangs 1927 hat sich gerne zu diesem Gespräch für ein Porträt in der TLZ bereit erklärt, so wie viele Überlebende in den vergangenen Jahren jeweils rund um den Gedenktag. Von dem Bericht in der Zeitung erhofft sie sich, dass über ihre Zeit hinaus das Wissen darüber erhalten bleibt, was einst Menschen von Mitmenschen angetan wurde.
Ein Dutzend BuchenwaldÜberlebende, die noch in der Lage sind, eine solch weite Reise zu unternehmen, waren in den vergangenen Tagen Gäste in Weimar. Sie kamen aus den USA, Israel, Frankreich, aber auch aus Ländern, die einst zum Ostblock gehörten. Magda Brown reiste mit Tochter Rochelle an, die ihre Mutter dabei unterstützt, als Zeitzeugin vor allem in den USA Rede und Antwort zu stehen. Magda hätte als Jugendliche gerne Magda Brown, geborene Perlstein, ist Zeitzeugin: Die Jüdin, Jahrgang 1927, aus Ungarn überlebte den Holocaust in Auschwitz und in einem Außenlager des KZ Buchenwald. Seit 1946 ist sie in Chicago beheimatet und stellt sich dort vor allem Schülerfragen zu ihrer Lebensgeschichte. eine höhere Schule besucht. In Ungarn sei bereits aber in den Zeiten vor dem Nationalsozialismus eine Quote von 1 Prozent festgelegt worden: Mehr jüdische Kinder durften nicht zur Oberschule. Magda wurde deshalb aussortiert. Ihre Eltern verschafften ihr eine Lehrstelle als Näherin. Aber das war nichts für sie. Doch bald sollte die Situation sehr viel schlimmer werden. Nachdem die Nazis im März 1944 in Ungarn ihre Schreckensmaschinerie in Gang gesetzt hatten, schritt die Entrechtung rasant voran: Erst wurden die Juden im Ghetto zusammengepfercht, sie verloren Arbeit und Freiheit, konnten nichts mehr auf dem Markt kaufen. Dann kam der Abtransport. Ob in Miskolc oder in anderen Städten – all diese Schritte liefen an jedem Ort in gleicher Weise ab, hat Magda Brown nach der Befreiung im Gespräch mit anderen Jüdinnen aus Ungarn erfahren.
Gemeinsame Gebete und Trost durch Lernen
Die Fahrt im Zug im Juni 1944 mit unbekanntem Ziel war von schrecklichem Durst begleitet. Die 17-Jährige hatte die ganzen drei Tage über im Waggon gestanden, damit ihre Eltern und ihre Großmutter auf dem Boden sitzen konnten. In Auschwitz überlebte sie als einzige ihrer Familie, weil sie stark wirkte und so der Selektion entging. 30 Kilogramm weniger wog Magda, als im April 1945 das Leiden endlich ein Ende hatte. Hunger, keine Hygiene, die ständige Gefahr, deswegen krank zu werden, die ermüdenden Zählappelle: Das war Auschwitz. Magda Brown erzählt, wie eine Gefangene, die schon länger im Lager war, auf ihre Frage nach dem Verbleib der Angehörigen reagierte: „Sie zeigte auf die Schornsteine... Ich konnte es erst nicht glauben.“Den Gestank, der aus den Kaminen stieg, werde sie nie vergessen.
Die Holocaust-Überlebende erinnert sich auch daran, wie Mitgefangene füreinander sorgten. So sprachen einige Frauen, versteckt hinter den Latrinen, mit den jungen Mädchen die Gebete und erinnerten sie an jüdische Feiertage. Die Gefangenen versuchten, sich mit Lernen abzulenken. Beim Gang über den Platz habe sie einmal eine Lehrerin gebeten, ihr die französische Revolution zu erklären. „Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin“, sagt sie. Zu lernen sei tröstlich gewesen.
Im August 1944 wurde Magda mit dem Zug gen Westen geschickt wurde – nach Allendorf bei Frankfurt/Main in ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Die Unterkunft in einer alten Kaserne war primitiv, aber doch besser als das, was sie in Auschwitz hatte ertragen müssen. Es gab wenig zu essen – und es wartete harte Arbeit auf Magda in einer Raketenund Bombenfabrik. In Zwölf-Stunden-Schichten Der Gedenkveranstaltung im ehemaligen NS-Konzentrationslager Buchenwald am vergangenen Wochenende wohnte auch die Überlebende Magda Brown bei. Foto: Jens-Ulrich Koch
schufteten die Frauen – in der einen Woche tagsüber, in der anderen nachts. Die Gefangenen mussten die gefährlichste Arbeit machen. Ihr erster Job sei es gewesen, Salpeter-Pulver in Säcke abzufüllen. „Wir hatten keine Möglichkeit, uns vor dem Staub zu schützen“, sagt sie – und zieht Schuh und Socke aus, um ein Mal am Fußrücken zu zeigen, das von einer Infektion herrührt, die sie sich damals zugezogen hatte. Holzpantinen mussten sie tragen. Die rissen die Haut auf, der Dreck kam in die Wunde... Der zweite Job war noch gefährlicher: Mit einer Flüssigkeit, in der auch Salpeter gewesen sei, musste sie Bomben
befüllen. Wer das länger machte, dessen Haare färbten sich orange, die Haut glich farblich einer Zitrone und die Lippen liefen violett an. „Das war im Februar und März 1945“, sagt Magda Brown. Wenn sie diese Arbeit hätte länger verrichten müssen, wäre sie wohl einer Vergiftung erlegen. Doch die amerikanische Armee rückte immer näher – das Lager in Allendorf wurde aufgelöst und die Tausende Frauen, die dort hatten Zwangsarbeit leisten müssen, sollten auf den Todesmarsch geschickt werden. Eiskalt sei es im März 1945 gewesen; nur einen leichten Umhang hatte sie. Nach drei Tagen Marsch fiel Magda auf, dass die
Zahl der Bewacherinnen immer kleiner wurde. Nachts machte sie sich mit etwa 20 anderen Frauen davon. Sie versteckten sich in einem Viehstall – und sahen am anderen Tag zwei Soldaten, die ihnen unbekannte Uniformen trugen. „Das waren unsere Befreier. Sie waren vielleicht 19, also kaum älter als wir. Wir haben geweint, sie haben geweint.“
Die US-Armee suchte nach den jungen Ungarinnen in der näheren Umgebung. Magda Brown fand in Niedergrenzebach bei Schwalmstadt Unterkunft. Sehr ländlich sei es da gewesen und die ältere Frau, bei der sie einquartiert wurde, habe nichts von all dem gewusst, was den Jüdinnen angetan worden ist. „Die Frau war so nett. Ihr habe ich geglaubt, dass sie ahnungslos war“, sagt Magda Brown. Aber als generelle Ausrede will sie dieses Nichtwissen nicht gelten lassen. Dafür waren zu viele Menschen in all die Abläufe des Holocaust involviert.
Nach der Befreiung war zunächst unklar, wohin sich Magda wenden sollte. Ein Kaplan kümmerte sich darum, dass sie Kontakt mit den bereits vor dem Ersten Weltkrieg in die USA ausgewanderten Geschwistern ihres Vaters aufnehmen konnte. Zugleich erfuhr sie von einem Jugendfreund ihre Bruders Miklos, dass dieser noch Weihnachten 1944 in Budapest gesehen worden war – und also die Chance bestand, dass er überlebt hatte. Miklos war seit 1942 im ungarisch-jüdischen Arbeitsdienst, weil Juden nicht mehr reguläre Armeeangehörige sein durften. Als im Juli 1944 die Deportation in Ungarn auch auf Bitten des Papstes beendet wurde, war Miklos in Budapest – und entging so dem Transport ins Lager.
Ihr Bruder konnte erst 1962 in die USA einreisen
Die amerikanischen Verwandten schickten Magda auch für Miklos Papiere zur Einreise; allerdings hatten die Sowjets, die Ungarn befreiten, den jungen Mann längst nach Sibirien geschickt, wo er für eine Papierfabrik Bäume fällen musste. Er erkrankte an Malaria, kam zurück nach Ungarn – von dort aber vorerst nicht weiter in die USA, weil sich inzwischen die politischen Fronten verhärtet hatten. Magda, die seit September 1946 in Chicago lebte, unterstützte ihren Bruder finanziell. Doch es sollte bis 1962 dauern, ehe sie sich wiedersahen. Miklos hatte endlich die Ausreise aus Ungarn geschafft – und durfte sich in den USA ansiedeln. Er arbeitete als Butler bei einer reichen Familie – und als er sich um die Jahrtausendwende zur Ruhe setzte, zog er nach Chicago, wo seine Schwester lebte. 2010 verstarb Miklos. Da hatte Magda bereits angefangen, sich intensiv in der Aufklärungsarbeit rund um den Holocaust zu engagieren.
Magda Brown ist aus der Zeit der Befreiung eine lebenslange Freundschaft geblieben. Nach dem überstandenen Todesmarsch hatte sie Eva Pusztai-Fahidy kennengelernt. Vor mehr als einem Jahrzehnt wurde ein Dokumentarfilm über sie und weitere Holocaust-Überlebende gedreht. Jetzt – zum 73. Jahrestag in Weimar – hatten sie sich eigentlich wiedersehen wollen. Doch Eva Pusztai, die im vergangenen Jahr noch am Rednerpult und auf der Bühne gestanden hatte, konnte diesmal aus gesundheitlichen Gründen nicht anreisen. Vielleicht, meint Magda Brown, sehen wir alle uns im nächsten Jahr wieder in Weimar. Sie drückt meine Hand ganz fest, schaut mir in die Augen und sagt: So Gott will.