Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Überwinder des Schicksals
Dem Geraer Theater gelingt mit George Enescus Oper „Oedipe“ein bravouröses Meisterstück
Ungeheuerlich ist der Schicksalsweg des Oedipe, unerhört das atemberaubende Klangwerk Enescus, das ihn kommentierend begleitet, und unglaublich die Qualität, mit der das Theater Altenburg-Gera diese als praktisch unspielbar geltende Oper zur Premiere gebracht hat. Vor allem das Philharmonische Orchester wächst über sich hinaus; zum Schlussapplaus ruft Generalmusikdirektor Laurent Wagner seine Helden auf die Bühne, und glücklich, erschöpft nehmen sie die stehenden Ovationen des Publikums entgegen. Lange wird noch von diesem Abend die Rede sein.
Schier narkotisierend wirken diese fremd-vertrauten Klangmischungen des rumänischen AusnahmeKomponisten, der schon als Knabe als Wunderkind galt und alsbald eine solitäre Stilistik entwickelte. Hilflose Versuche, diese Klangsprache als Neoromantik oder Wagnerisme zu klassifizieren, weisen nur auf ihre ausdrucksstarke Harmonik und Chromatik hin.
Enescu notiert Glissandi in Vierteltönen, nutzt Flageoletts, um Sphären des Jenseitigen für unsere Ohren zu öffnen, nimmt Anleihen bei Musiktraditionen der Heimat, ohne je ins Folkloristische zu driften, und verlangt einen aberwitzigen Klangapparat: von Klavier, Celesta, Harmonium und Glockenspiel bis zu Altsaxophon und singender Säge. Weil dafür der Orchestergraben in Gera bei weitem zu klein ist, hat man einen Teil des Schlagwerks im Unterbühnenbereich postiert; um es hörbar zu machen, so verriet Intendant Kay Kuntze, entwarf man eine Choreografie der Türen.
Trotzdem spart die Musik mit orchestraler Wucht. Vielmehr erzeugt sie ein sinnenmächtiges Ambiente für das Bühnengeschehen, das somit selbst ohne Worte – mit dem Herzen – verständlich würde. Außerdem setzt sie Instrumental-Soli und verblüffende Kammermusik-Formationen ein; zumal die Holzbläser im Orchester zeichnen sich damit aus. GMD Wagner wählt behutsame, keineswegs schleppende Tempi und exerziert die abenteuerlichsten Rhythmus-Strukturen, ohne dass uns Hörern gewärtig würde, wie komplex, wie kompliziert all das ist. Auf jeden einzelnen Musiker kommt es in diesem irisierenden Organismus an, und fest hält ein souveräner „General“alle Fäden in seiner Hand. Einen archaisch finsteren Raum bildet die Bühne. Ein Halbrund aus Felsquadern begrenzt die Arena, griechische Schriftzeichen und Symbole sowie eine große, zylindrisch gestauchte Scheibe lassen an eine mystische Tempelarchitektur denken. Rot glühend senkt sich zu den ersten Takten des Vorspiels eine Nabelschnur aus der Höhe herab, und ein warmes Fagottsolo bringt Oedipe zur Welt. Iokastes Schrei von der Bühne, konvulsivische Wehen aus dem Graben machen den Vorgang zum Urerlebnis. Thebanisches Volk, Hirten und Priester in antikisierenden Kostümen, teils mit Stierschädeln als Pihla Terrttunen singt die Partie der Sphinx; unter ihr Sébastien Soulès als Oedipe.
Kopfbedeckung, umstehen die von Fackeln erleuchtete Szenerie. Und prompt wird des Orakels erinnert, dass die Götter es Iokaste und Laios, dem thebanischen Königspaar, verboten, einen Sohn zu zeugen.
Er werde, so lautet die altbekannte Prophetie, den Vater erschlagen und die Mutter heiraten, um mit ihr Kinder zu haben. Doch eben weil alle Akteure mit äußersten Mitteln diese Ungeheuerlichkeit zu vermeiden suchen, löst sie sich im Zuge eines klassischen Stationendramas ein. Der Säugling Oedipe wird im Gebirge ausgesetzt, überlebt auf wundersame Weise und wächst am Hof von Korinth auf. Als der junge Mann von seinem Menetekel erfährt, nimmt er, nicht wissend, dass er ein Findelkind ist, Reißaus und wandert gen Theben.
An einer dreifachen Weggabelung gerät er – ein Unwetter naht – mit einem zornigen Alten – Laios – in Streit und erschlägt ihn in Notwehr. Dann befreit der Held die Stadt von der grausamen Sphinx, einer bizarren, in einem monströsen Technikapparat hausenden Frau. Im – durchaus erotischen – Ringen löst er ihre ultimative Rätselfrage, wer stärker sei als das Schicksal. „Der Mensch!“lautet seine idealistische Antwort, und sie scheidet mit der Prophetie, erst an seinem Ende werde er wissen, ob die Sphinx über ihren Sieg lachend oder ihre Niederlage beweinend sterbe.
Zum Lohn für die Heldentat erhält der Unbekannte die Hand der Königswitwe Iokaste und den thebanischen Thron. Erst als die Pest ausbricht, erinnert der blinde Seher Theiresias an den ungesühnten Tod König Laios‘, Oedipe forscht nach, gewinnt schauerliche Gewissheit, blendet und verbannt sich selbst. Regisseur Kay Kuntze und sein Ausstatter Duncan Hayler erzählen den Mythos ohne überflüssige Schnörkel: stets klar, in jeder menschlichen Situation absolut glaubwürdig, mit einigen wenigen, die Orte der Handlung charakterisierenden Symbolen und mit einer kongenial zur Musik Atmosphäre stiftenden Lichtführung.
Andernfalls würden empfindliche Zuschauer Schüttelfröste erlitten haben – wie Oedipe, als er die Wahrheit erkennt. Ohne jede Übertreibung exakt das richtige Maß des gerade noch Menschlichen getroffen zu haben, macht die großartige Leistung des Regieteams aus. Unter den Solisten, die allesamt kurze, doch ungemein schwere Partien zu singen haben, gibt es nicht einen Ausfall. Timo Rößner, Béela Müller, Johannes Beck, Kai Wefer, Frank Ernst, Ulrich Burdack, Miriam Zubieta, Alejandro Lárraga Schleske und die junge Pihla Terttunen (aus dem Opernstudio der Liszt-Hochschule) stehen für die Kunst des Geraer Ensembles ein. Sébastien Soulès als Gast singt die schwere Titelpartie vorzüglich in geschmeidiger Deklamation, klug seine Kräfte einteilend.
Kuntze und Hayler erzählen den Mythos ohne Schnörkel
Der schuldlos Schuldige stirbt ohne Gram
In der Verbannung scheidet Oedipe, nur von der Tochter Antigone geleitet, vom Leben und ist mit sich und seinem Schicksal vollkommen versöhnt. So Ungeheures dem schuldlos schuldig Gewordenen widerfuhr: Er hat es akzeptiert – und somit überwunden. Kuntze zeigt das Ende in einem berührenden Schlussbild: Der Held, dessen Haltung den finalen Sieg bringt, transzendiert in einer reziproken Geburtsszene. Der Kreis schließt sich, eine Vision zeigt wieder den Fötus im Mutterleib.
Eine gefühlte Ewigkeit dauert es, bis das Publikum nach den letzten Akkorden aus diesem Rausch von einer Oper erwacht. Nicht enden will der Applaus. Drei Stunden lang war Gera, war das Theater der Stadt der Mittelpunkt einer Welt.
• Weitere Vorstellungen: . April und . Mai