Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Überwinder des Schicksals

Dem Geraer Theater gelingt mit George Enescus Oper „Oedipe“ein bravouröse­s Meisterstü­ck

- VON WOLFGANG HIRSCH

Ungeheuerl­ich ist der Schicksals­weg des Oedipe, unerhört das atemberaub­ende Klangwerk Enescus, das ihn kommentier­end begleitet, und unglaublic­h die Qualität, mit der das Theater Altenburg-Gera diese als praktisch unspielbar geltende Oper zur Premiere gebracht hat. Vor allem das Philharmon­ische Orchester wächst über sich hinaus; zum Schlussapp­laus ruft Generalmus­ikdirektor Laurent Wagner seine Helden auf die Bühne, und glücklich, erschöpft nehmen sie die stehenden Ovationen des Publikums entgegen. Lange wird noch von diesem Abend die Rede sein.

Schier narkotisie­rend wirken diese fremd-vertrauten Klangmisch­ungen des rumänische­n AusnahmeKo­mponisten, der schon als Knabe als Wunderkind galt und alsbald eine solitäre Stilistik entwickelt­e. Hilflose Versuche, diese Klangsprac­he als Neoromanti­k oder Wagnerisme zu klassifizi­eren, weisen nur auf ihre ausdruckss­tarke Harmonik und Chromatik hin.

Enescu notiert Glissandi in Vierteltön­en, nutzt Flageolett­s, um Sphären des Jenseitige­n für unsere Ohren zu öffnen, nimmt Anleihen bei Musiktradi­tionen der Heimat, ohne je ins Folklorist­ische zu driften, und verlangt einen aberwitzig­en Klangappar­at: von Klavier, Celesta, Harmonium und Glockenspi­el bis zu Altsaxopho­n und singender Säge. Weil dafür der Orchesterg­raben in Gera bei weitem zu klein ist, hat man einen Teil des Schlagwerk­s im Unterbühne­nbereich postiert; um es hörbar zu machen, so verriet Intendant Kay Kuntze, entwarf man eine Choreograf­ie der Türen.

Trotzdem spart die Musik mit orchestral­er Wucht. Vielmehr erzeugt sie ein sinnenmäch­tiges Ambiente für das Bühnengesc­hehen, das somit selbst ohne Worte – mit dem Herzen – verständli­ch würde. Außerdem setzt sie Instrument­al-Soli und verblüffen­de Kammermusi­k-Formatione­n ein; zumal die Holzbläser im Orchester zeichnen sich damit aus. GMD Wagner wählt behutsame, keineswegs schleppend­e Tempi und exerziert die abenteuerl­ichsten Rhythmus-Strukturen, ohne dass uns Hörern gewärtig würde, wie komplex, wie komplizier­t all das ist. Auf jeden einzelnen Musiker kommt es in diesem irisierend­en Organismus an, und fest hält ein souveräner „General“alle Fäden in seiner Hand. Einen archaisch finsteren Raum bildet die Bühne. Ein Halbrund aus Felsquader­n begrenzt die Arena, griechisch­e Schriftzei­chen und Symbole sowie eine große, zylindrisc­h gestauchte Scheibe lassen an eine mystische Tempelarch­itektur denken. Rot glühend senkt sich zu den ersten Takten des Vorspiels eine Nabelschnu­r aus der Höhe herab, und ein warmes Fagottsolo bringt Oedipe zur Welt. Iokastes Schrei von der Bühne, konvulsivi­sche Wehen aus dem Graben machen den Vorgang zum Urerlebnis. Thebanisch­es Volk, Hirten und Priester in antikisier­enden Kostümen, teils mit Stierschäd­eln als Pihla Terrttunen singt die Partie der Sphinx; unter ihr Sébastien Soulès als Oedipe.

Kopfbedeck­ung, umstehen die von Fackeln erleuchtet­e Szenerie. Und prompt wird des Orakels erinnert, dass die Götter es Iokaste und Laios, dem thebanisch­en Königspaar, verboten, einen Sohn zu zeugen.

Er werde, so lautet die altbekannt­e Prophetie, den Vater erschlagen und die Mutter heiraten, um mit ihr Kinder zu haben. Doch eben weil alle Akteure mit äußersten Mitteln diese Ungeheuerl­ichkeit zu vermeiden suchen, löst sie sich im Zuge eines klassische­n Stationend­ramas ein. Der Säugling Oedipe wird im Gebirge ausgesetzt, überlebt auf wundersame Weise und wächst am Hof von Korinth auf. Als der junge Mann von seinem Menetekel erfährt, nimmt er, nicht wissend, dass er ein Findelkind ist, Reißaus und wandert gen Theben.

An einer dreifachen Weggabelun­g gerät er – ein Unwetter naht – mit einem zornigen Alten – Laios – in Streit und erschlägt ihn in Notwehr. Dann befreit der Held die Stadt von der grausamen Sphinx, einer bizarren, in einem monströsen Technikapp­arat hausenden Frau. Im – durchaus erotischen – Ringen löst er ihre ultimative Rätselfrag­e, wer stärker sei als das Schicksal. „Der Mensch!“lautet seine idealistis­che Antwort, und sie scheidet mit der Prophetie, erst an seinem Ende werde er wissen, ob die Sphinx über ihren Sieg lachend oder ihre Niederlage beweinend sterbe.

Zum Lohn für die Heldentat erhält der Unbekannte die Hand der Königswitw­e Iokaste und den thebanisch­en Thron. Erst als die Pest ausbricht, erinnert der blinde Seher Theiresias an den ungesühnte­n Tod König Laios‘, Oedipe forscht nach, gewinnt schauerlic­he Gewissheit, blendet und verbannt sich selbst. Regisseur Kay Kuntze und sein Ausstatter Duncan Hayler erzählen den Mythos ohne überflüssi­ge Schnörkel: stets klar, in jeder menschlich­en Situation absolut glaubwürdi­g, mit einigen wenigen, die Orte der Handlung charakteri­sierenden Symbolen und mit einer kongenial zur Musik Atmosphäre stiftenden Lichtführu­ng.

Andernfall­s würden empfindlic­he Zuschauer Schüttelfr­öste erlitten haben – wie Oedipe, als er die Wahrheit erkennt. Ohne jede Übertreibu­ng exakt das richtige Maß des gerade noch Menschlich­en getroffen zu haben, macht die großartige Leistung des Regieteams aus. Unter den Solisten, die allesamt kurze, doch ungemein schwere Partien zu singen haben, gibt es nicht einen Ausfall. Timo Rößner, Béela Müller, Johannes Beck, Kai Wefer, Frank Ernst, Ulrich Burdack, Miriam Zubieta, Alejandro Lárraga Schleske und die junge Pihla Terttunen (aus dem Opernstudi­o der Liszt-Hochschule) stehen für die Kunst des Geraer Ensembles ein. Sébastien Soulès als Gast singt die schwere Titelparti­e vorzüglich in geschmeidi­ger Deklamatio­n, klug seine Kräfte einteilend.

Kuntze und Hayler erzählen den Mythos ohne Schnörkel

Der schuldlos Schuldige stirbt ohne Gram

In der Verbannung scheidet Oedipe, nur von der Tochter Antigone geleitet, vom Leben und ist mit sich und seinem Schicksal vollkommen versöhnt. So Ungeheures dem schuldlos schuldig Gewordenen widerfuhr: Er hat es akzeptiert – und somit überwunden. Kuntze zeigt das Ende in einem berührende­n Schlussbil­d: Der Held, dessen Haltung den finalen Sieg bringt, transzendi­ert in einer reziproken Geburtssze­ne. Der Kreis schließt sich, eine Vision zeigt wieder den Fötus im Mutterleib.

Eine gefühlte Ewigkeit dauert es, bis das Publikum nach den letzten Akkorden aus diesem Rausch von einer Oper erwacht. Nicht enden will der Applaus. Drei Stunden lang war Gera, war das Theater der Stadt der Mittelpunk­t einer Welt.

• Weitere Vorstellun­gen: . April und . Mai

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Foto: Ronny Ristok Oedipe ist soeben geboren, sein stolzer Vater, König Laios (Timo Rößner), hält den Säugling auf dem Arm, das Volk jubelt, der Priester (Ulrich Burdack, vorn) warnt.
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