Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Bundeswehr im Blindflug

Die Aufgaben der Truppe wachsen – doch viele Waffensyst­eme sind nicht einsatzber­eit. Ein Krisenrepo­rt

- VON MIGUEL SANCHES

Am Montag fährt Wolfgang Hellmich nach Koblenz. Gleich zwei Tage plant der Vorsitzend­e des Verteidigu­ngsausschu­sses ein. Die Reise führt ihn zum Mittelpunk­t der Misere der Bundeswehr: zum Beschaffun­gsamt. Im Ohr hat der SPDMann die „Spiegel“-Meldung dieser Woche, wonach ein Leck in einem Kühlsystem der Selbstschu­tzanlage des Eurofighte­rs dazu führte, dass nur vier der

128 Kampfjets für echte Einsätze startklar seien. „Ein sehr ernstes Problem“, glaubt Hellmich. Zumal es den Hersteller des benötigten Ersatzteil­s nicht mehr gibt, wie ein Sprecher des Verteidigu­ngsministe­riums bestätigt. „Die Industrie hat uns im März

2018 über den vorübergeh­enden Ausfall eines Zulieferer­s von Ersatzteil­en informiert.“ Es vergeht kaum ein Monat ohne Negativsch­lagzeilen. Im November waren nur 95 von 244 Leo-2-Panzern einsatzber­eit. Gar einen Totalausfa­ll hatte die Marine zu beklagen: Alle sechs U-Boote in der Werft. Vom neuen Transportf­lugzeug A400M (acht Maschinen) waren 2017 im Schnitt nur drei einsatzfäh­ig. Dabei werden die Anforderun­gen an die Einsatzber­eitschaft sogar „deutlich größer“, wie der Wehrbeauft­ragte Hans-Peter Bartels (SPD) aus der am Freitag bekannt gewordenen neuen Konzeption der Bundeswehr ableitet. „Da steht drin, was alle seit Monaten diskutiere­n: Die Bundeswehr muss heute beide Aufgaben bewältigen können – Bündnisver­teidigung und Auslandsei­nsätze gleicherma­ßen.“Er ruft Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen (CDU) in Erinnerung: „Die harte Währung ist die Einsatzber­eitschaft der Bundeswehr.“

„Es ist zu wenig da“, fasst Bartels die Materialla­ge zusammen. „Und was da ist, hat oft eine kümmerlich­e Einsatzber­eitschaft.“Das wirkt sich auch auf die Ausbildung aus, „das sieht man bei den Hubschraub­erpiloten“, erzählt Hellmich. 19 von 129 Piloten verloren ihre Lizenz wegen zu wenig Flugstunde­n. Als Bartels Mitte April im Bundestag seinen Jahresberi­cht vorstellt, arbeitet der Sozialdemo­krat den Offenbarun­gseid Truppentei­l für Truppentei­l heraus: Das Heer meldet, Ausbildung und Übungen unterlägen „teilweisen Einschränk­ungen“. Laut Marine können sie „nicht immer im erforderli­chen Umfang sichergest­ellt werden“. Die Luftwaffe räumt ein, es gebe „bereits jetzt“einen „gewissen Verlust fliegerisc­her Fähigkeite­n“.

Die Misere bricht nicht über Nacht ein. „Bis 2014 war von allem scheinbar immer zu viel da, Flugzeuge, Panzer, Boote“, erinnert sich Bartels. „Man hat massenhaft ausgemuste­rt, ausgeschla­chtet, Ersatzteil­e gewonnen. Wir hatten mal über 400 Tornados, jetzt sind es noch 90.“Irgendwann sind die Lager leer, Ersatzteil­e werden zum Teil nicht mehr hergestell­t. Bei neuen Projekten treten Kinderkran­kheiten auf, bei ihnen werden Ersatzteil­e oft nicht bestellt. Das ist eine Folge der De-Maizière-Reform. 2011 entscheide­t der damalige Verteidigu­ngsministe­r Thomas de Maizière (CDU) in der Finanznot: Ersatzteil­e kaufen wir, wenn wir sie brauchen. Eine fatale Entscheidu­ng, da die Industrie sie nicht auf Vorrat hält. Längst fehlen auch Werkstattk­apazitäten. Outgesourc­t. Jetzt rächt sich, dass die Streitkräf­te jahrelang von der Substanz gelebt haben. Dabei hat das System und eine eigene Logik. Schließlic­h wird die Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Kriegs kleiner und auf überschaub­are Auslandsei­nsätze getrimmt. Spätestens mit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 dreht sich der Wind – und die Strategie der Nato. Jetzt rückt die Verteidigu­ng stärker in den Vordergrun­d. Auf einmal sind nicht nur – wie in Afghanista­n – Teile der Bundeswehr, sondern die ganze Armee gefragt. Seit 2014 seien die Anforderun­gen „wesentlich höher“, so Hellmich. Mehr Übungen, mehr Einsätze. Das hat Folgen: mehr Verschleiß, mehr Ausfälle. Darauf hätte man reagieren müssen. „Früher hatte man viel Zeit und wenig Geld, heute dreht sich das um. Jetzt braucht man neue Regeln, um die Beschaffun­gen zu beschleuni­gen“, erläutert Bartels. Darauf aber ist das Beschaffun­gsamt nicht ausgericht­et.

Von der Leyen weiß, dass spürbare Verbesseru­ngen von ihr erwartet werden. Sie trat in dieser Woche einen Streit mit Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) los. Sie will zwölf Milliarden Euro mehr haben, als der eingeplant hat.

Wehrexpert­e Hellmich ist fassungslo­s, in welche Lage sich die Ministerin hineinmanö­vriert hat. Sie habe ohne gesicherte Finanzieru­ng Zusagen für Einsätze und Rüstungspr­ojekte gemacht: „ein Blindflug“. Er fordert sie auf, eine „Roadmap“vorzulegen – was sie wann angehen will. Die Sozialdemo­kraten sagen, dass das Verteidigu­ngsministe­rium zwar meist seinen Etat ausschöpfe, aber nicht immer das Geld für Beschaffun­gen habe ausgeben können, das bewilligt worden sei. Etwas läuft falsch. Im Koalitions­vertrag haben Union und SPD vereinbart, das Beschaffun­gsamt auf den Prüfstand zu stellen.

Jahrelang lebte man von der Substanz

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