Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Bundeswehr im Blindflug
Die Aufgaben der Truppe wachsen – doch viele Waffensysteme sind nicht einsatzbereit. Ein Krisenreport
Am Montag fährt Wolfgang Hellmich nach Koblenz. Gleich zwei Tage plant der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses ein. Die Reise führt ihn zum Mittelpunkt der Misere der Bundeswehr: zum Beschaffungsamt. Im Ohr hat der SPDMann die „Spiegel“-Meldung dieser Woche, wonach ein Leck in einem Kühlsystem der Selbstschutzanlage des Eurofighters dazu führte, dass nur vier der
128 Kampfjets für echte Einsätze startklar seien. „Ein sehr ernstes Problem“, glaubt Hellmich. Zumal es den Hersteller des benötigten Ersatzteils nicht mehr gibt, wie ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigt. „Die Industrie hat uns im März
2018 über den vorübergehenden Ausfall eines Zulieferers von Ersatzteilen informiert.“ Es vergeht kaum ein Monat ohne Negativschlagzeilen. Im November waren nur 95 von 244 Leo-2-Panzern einsatzbereit. Gar einen Totalausfall hatte die Marine zu beklagen: Alle sechs U-Boote in der Werft. Vom neuen Transportflugzeug A400M (acht Maschinen) waren 2017 im Schnitt nur drei einsatzfähig. Dabei werden die Anforderungen an die Einsatzbereitschaft sogar „deutlich größer“, wie der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD) aus der am Freitag bekannt gewordenen neuen Konzeption der Bundeswehr ableitet. „Da steht drin, was alle seit Monaten diskutieren: Die Bundeswehr muss heute beide Aufgaben bewältigen können – Bündnisverteidigung und Auslandseinsätze gleichermaßen.“Er ruft Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) in Erinnerung: „Die harte Währung ist die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr.“
„Es ist zu wenig da“, fasst Bartels die Materiallage zusammen. „Und was da ist, hat oft eine kümmerliche Einsatzbereitschaft.“Das wirkt sich auch auf die Ausbildung aus, „das sieht man bei den Hubschrauberpiloten“, erzählt Hellmich. 19 von 129 Piloten verloren ihre Lizenz wegen zu wenig Flugstunden. Als Bartels Mitte April im Bundestag seinen Jahresbericht vorstellt, arbeitet der Sozialdemokrat den Offenbarungseid Truppenteil für Truppenteil heraus: Das Heer meldet, Ausbildung und Übungen unterlägen „teilweisen Einschränkungen“. Laut Marine können sie „nicht immer im erforderlichen Umfang sichergestellt werden“. Die Luftwaffe räumt ein, es gebe „bereits jetzt“einen „gewissen Verlust fliegerischer Fähigkeiten“.
Die Misere bricht nicht über Nacht ein. „Bis 2014 war von allem scheinbar immer zu viel da, Flugzeuge, Panzer, Boote“, erinnert sich Bartels. „Man hat massenhaft ausgemustert, ausgeschlachtet, Ersatzteile gewonnen. Wir hatten mal über 400 Tornados, jetzt sind es noch 90.“Irgendwann sind die Lager leer, Ersatzteile werden zum Teil nicht mehr hergestellt. Bei neuen Projekten treten Kinderkrankheiten auf, bei ihnen werden Ersatzteile oft nicht bestellt. Das ist eine Folge der De-Maizière-Reform. 2011 entscheidet der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) in der Finanznot: Ersatzteile kaufen wir, wenn wir sie brauchen. Eine fatale Entscheidung, da die Industrie sie nicht auf Vorrat hält. Längst fehlen auch Werkstattkapazitäten. Outgesourct. Jetzt rächt sich, dass die Streitkräfte jahrelang von der Substanz gelebt haben. Dabei hat das System und eine eigene Logik. Schließlich wird die Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Kriegs kleiner und auf überschaubare Auslandseinsätze getrimmt. Spätestens mit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 dreht sich der Wind – und die Strategie der Nato. Jetzt rückt die Verteidigung stärker in den Vordergrund. Auf einmal sind nicht nur – wie in Afghanistan – Teile der Bundeswehr, sondern die ganze Armee gefragt. Seit 2014 seien die Anforderungen „wesentlich höher“, so Hellmich. Mehr Übungen, mehr Einsätze. Das hat Folgen: mehr Verschleiß, mehr Ausfälle. Darauf hätte man reagieren müssen. „Früher hatte man viel Zeit und wenig Geld, heute dreht sich das um. Jetzt braucht man neue Regeln, um die Beschaffungen zu beschleunigen“, erläutert Bartels. Darauf aber ist das Beschaffungsamt nicht ausgerichtet.
Von der Leyen weiß, dass spürbare Verbesserungen von ihr erwartet werden. Sie trat in dieser Woche einen Streit mit Finanzminister Olaf Scholz (SPD) los. Sie will zwölf Milliarden Euro mehr haben, als der eingeplant hat.
Wehrexperte Hellmich ist fassungslos, in welche Lage sich die Ministerin hineinmanövriert hat. Sie habe ohne gesicherte Finanzierung Zusagen für Einsätze und Rüstungsprojekte gemacht: „ein Blindflug“. Er fordert sie auf, eine „Roadmap“vorzulegen – was sie wann angehen will. Die Sozialdemokraten sagen, dass das Verteidigungsministerium zwar meist seinen Etat ausschöpfe, aber nicht immer das Geld für Beschaffungen habe ausgeben können, das bewilligt worden sei. Etwas läuft falsch. Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, das Beschaffungsamt auf den Prüfstand zu stellen.
Jahrelang lebte man von der Substanz