Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Mit Witz gegen den Schuldenberg
Zu Marx‘ 200. Geburtstag zeigt die Kunstsammlung Jena Werke, die einen kritischen Blick auf die Gegenwart werfen. Ein Geniestreich
Die Künstlerin Christin Lahr überweist seit 2009 jeden Tag einen Cent an das Bundesfinanzministerium. In die Zeile für den Verwendungszweck setzt sie jeweils 140 Zeichen aus Karl Marx‘ „Kapital, Band 1“. Es werde insgesamt 43 Jahre dauern, bis das gesamte Buch ‚überwiesen‘ sei, sagt die in Leipzig und Berlin wirkende Künstlerin. Ihr zwei Räume fassendes Projekt ist Teil der neuen Ausstellung der Jenaer Kunstsammlung, dem aktuellen Geniestreich von Kurator Erik Stephan.
Anlässlich Marx‘ 200. Geburtstages hat der Ausstellungsmacher zwölf Künstler in einer nachdenklichen wie bildgewaltigen Schau zusammengeführt, die den „lautmalerischen“Titel „Dystopia“trägt. Dystopie ist das Gegenstück zur positiv konnotierten Utopie, also ein pessimistisches Zukunftsszenario à la „Schöne neue Welt“und „1984“.
Die Annahme, die Ausstellung sei eine Ansammlung düster-depressiver Systemkritik erfüllt sich glücklicherweise nicht. Natürlich setzen sich die Künstler kritisch mit unserer westlichen Kultur auseinander – mit Geldfluss, Verschuldung, Übergriffigkeiten gegenüber Frauen, G8-Treffen oder der ungleichen Verteilung des Kapitals. Doch sie tun das ohne Agitation. Vielmehr ermöglichen sie neue, teils humorvolle Blicke auf die Wirklichkeit.
Künstlerin Christin Lahr will mit ihrem ironischen Projekt „Macht Geschenke: Das Kapital“die Staatsverschuldung abbauen. „Ich trage in homöopathischen Dosen den Schuldenberg ab“, sagt sie trocken. Wichtiger Bestandteil ihrer Ausstellungen ist zudem ein „kapitaler Schreibtisch“mit diversen Ausgaben des Marx‘schen „Kapitals“darauf sowie der Stuhl des jeweiligen Oberbürgermeisters. Beides ist stets die Voraussetzung für ihre Teilnahme – wobei es sich beim Jenaer Exemplar um den Stuhl eines scheidenden Stadtoberhauptes handelt.
Ums Geld geht es auch in Gunter Reskis „Raumjournal für Schweinezyklen“, das effektvoll die Jenaer Schau eröffnet. Dieses wandzeitungsartige Werk, das sämtliche Wände des ersten Raumes mit Texten und Bildern bespielt, thematisiert das private und globale Finanzwesen. Eine Grafik verdeutlicht etwa, in welch unfassbarer Geschwindigkeit der sogenannte Hochfrequenzhandel Transaktionen abwickelt, nämlich in 0,00025 Sekunden. Für Kurator Stephan ist das ein „unmenschliches Maß, fernab jeglicher Kontrolle“. Ein großes Gemälde zeigt obendrein einen Patienten im Krankenbett, angeschlossen an lebenserhaltene Apparaturen – ein Gleichnis auf den Finanzsektor, der trotz weltweiter Krise 2008 bis heute krankt.
Unter dem Dutzend Künstler sind auch vier Thüringer, etwa der Jenaer Sebastian Jung und der Greizer Henrik Schrat. Ebenfalls aus Greiz stammt Susann Maria Hempel, die für ihre ins Mark gehende Videoinstallation weltweit Preise erhielt.
Der in Erfurt geborene Künstler Julian Röder fotografiert seit Jahren die Proteste gegen die Gipfeltreffen von EU und G8. Die Bilder halten unter anderem massive Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizisten fest, aber auch friedliche Szenen wie das Liebespaar, das in eine Zeltplane eingewickelt auf der Wiese schläft. Auf einem gemäldegleichen Schnappschuss versuchen wiederum drei berittene Polizisten einen durch ein Feld streifenden Protestler aufzuhalten.
Zu den international gefragtesten Künstlern der Ausstellung zählt die Türkin Inci Eviner. In „Parliament“thematisiert sie die Flüchtlingsproblematik. Die aufwendige Videoarbeit zeigt das EU-Parlamentsgebäude, in dem die Mitarbeiter seltsam ritualisierte Handlungen vollziehen, etwa auf der Stelle laufen oder einem knieenden Flüchtling routiniert die Hand schütteln. In Tunneln unter der Erde warten weitere Asylsuchende und hoffen auf Einlass in die Oberwelt.
Dass die Kunstsammlung Jena Karl Marx eine Ausstellung widmet, ist auch dem Umstand geschuldet, dass der viel diskutierte Philosoph und Ökonom seinen Doktortitel an der dortigen Uni erwarb.
• Die Ausstellung ist seit heute bis . August im Stadtmuseum zu sehen.