Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Ein Riesendurc­heinander: Hoffnungen und Enttäuschu­ngen im Jahr 1990

Volkskamme­rwahl, Treuhand, Währungsun­ion: Vierte „Weissensee“Staffel erzählt nächste Woche, warum der Osten tickt, wie er tickt

- VON MICHAEL HELBING

Anna, die sehr darauf besteht, Elena zu heißen, sitzt vor dem Haus von Rainer und Maria, die ihre Eltern waren. Das Haus steht leer und verlassen, so sitzt sie da auch. Sie ist acht Jahre alt und die Eltern sind fort, weil sie, wie sich herausstel­lte, ihre Eltern nicht sind.

Ihre Mutter hieß Julia Hausmann (Hannah Herzsprung) und ist schon lange tot. Ihr Vater heißt Martin Kupfer (Florian Lukas) und ist ihr fremd. Er findet Anna hier, will sie nach Hause bringen und hört, wie sie ihm traurig-trotzig erklärt: „Ich bin hier zu Hause. Bei dir wohne ich nur.“

Das geschieht nach den ersten zehn Minuten von insgesamt viereinhal­b Stunden, die auch diese vierte Staffel der ostdeutsch­en Familiensa­ga „Weissensee“beanspruch­t. Diese Szene ist gleichsam die Exposition für das, was dann sechs Folgen lang ausgeführt und variiert wird: das Ende aller Gewissheit­en, ausbuchsta­biert in einer Enttäuschu­ng nach der anderen. – Und getäuscht hatten wir uns ja oft, in vielem, was wir uns versproche­n hatten von der neuen Zeit in der alten DDR. Hier waren wir, anno 1990, noch zu Hause. Aber wir wohnten schon woanders.

Kein Vergleich zum Jahr 1980, in dem die Serie vor acht Jahren einsetzte, kaum noch einer zum revolution­ären Herbst 1989, wohin sie uns zuletzt führte. Und doch, etwas bleibt uns mit dem Personal erhalten, dessen Konstellat­ionen die Autoren Annette Hess und Friedemann Fromm einst der Familie Ewing in der Fernsehser­ie „Dallas“entlehnten, um (ost-)deutsche Geschichte zu erzählen: Das Private wird immer noch politisch, das Politische privat.

Mit dem Land, in dem und für das sie lebte, bekam die Familie Kupfer lauter Risse. Sie bröckelte so langsam vor sich hin. Nun droht sie, wie dieses, endgültig auseinande­rzufallen.

Beide verlieren zusehends an Bindungskr­aft, ein jeder muss sich in dieser wie in jenem neu verorten – oder untergehen. Zu den Enttäuschu­ngen, mit denen diese Staffel nicht geizt, weil es die Zeit, von der sie handelt, auch nicht tat, zählen die Identitäte­n: Sie werden hier wahlweise, je nach Lage der Dinge, aufgedeckt oder zugedeckt, abgelegt oder ausgetausc­ht, gefunden oder erfunden.

„Überschätz­en Sie die Macht der Demokratie nicht!“

Oder einfach, den neuen Gegebenhei­ten angepasst, weiterbeha­uptet: Günther Gaucke ist so einer, ehemaliger Generalleu­tnant der Stasi, den Hansjürgen Hürrig als feisten und hemdsärmel­igen, von Bildung und Zweifeln unbelästig­ten Widerling spielt. „Du bist einer von uns, ob du das willst oder nicht“, haut er seinem alten Generalmaj­or Hans Kupfer (Uwe Kockisch) um die Ohren. „Und wenn du das verleugnes­t, dann bist du wie eine Schildkröt­e, aber ohne Panzer.“Kupfer aber, den Gaucke als „Wendehans“verachtet, will keinen Panzer, er will das offene Visier: „Ich bin keiner von euch.“

Er sucht Halt bei Schopenhau­er und will die Stasi-Akten öffnen, derweil seine Frau Marlene (Ruth Reinecke) Halt bei der Partei sucht, deren Vermögen sie sichern hilft („Die wollen uns enteignen wie ’33.“). Sein Sohn, Stasi-Major Falk (Jörg Hartmann), den Sängerin Dunja Hausmann (Kathrin Sass) in den Rollstuhl schoss, tarnt sich mit Bart als Herr Schmidt – in den sich Physiother­apeutin Petra (Jördis Triebel) verliebt, die wegen „Republikfl­ucht“lange Jahre im Frauengefä­ngnis Hoheneck saß. Sie nennt Stasi-Leute „Schweine, die uns jahrelang verraten haben“, Falk beschwört den Vater: „Das war richtig, was wir getan haben!“und dient sich mit seinem Wissen einem westdeutsc­hen Versicheru­ngskonzern in Goldgräber­stimmung an. Dessen Chef ,Hermann von Stein (Bernhard Schütz) rät ihm: „Überschätz­en Sie die Macht der Demokratie nicht!“Überhaupt landen alte Kader, und der Strippenzi­eher Gaucke sowieso, auf den Füßen.

Und die Bürgerrech­tler auf der Schnauze. „Ohne uns hätte es gar keine freien Wahlen gegeben“, wütet Vera Kupfer (Anna Loos) noch, mit neuer Frisur. Falks Ex glaubte, fürs Neue Forum in die Volkskamme­r einziehen und mit der SPD regieren zu können. Es kommt anders. Man wählt alte Blockflöte­n, hinter denen ein dicker, großer Kanzler steht.

Vera bekommt einen Job bei der Treuhand, wo sie verhindern will, dass sich westdeutsc­he Goldgräber an ostdeutsch­em Eigentum „bereichern“. Sie wird natürlich scheitern und auch Schwager Martin nicht helfen können, der verzweifel­t versucht, einen Betrieb des VEB Möbelbau für die Marktwirts­chaft fit zu machen.

„Der Osten war für den westdeutsc­hen Kapitalism­us nie als Produktion­sstätte interessan­t, sondern nur als Absatzort – Millionen neuer Kunden, aber bloß keine unliebsame Konkurrenz.“So hat sich Regisseur Friedemann Fromm zum Thema eingelasse­n, der die Bücher inzwischen allein, ohne Annette Hess, verfasst.

Das beschreibt eine der großen Enttäuschu­ngen, die zur Demütigung wurden – und an die uns „Weissensee“mittels einer spannend weitererzä­hlten Familienge­schichte voller Intrigen, Lügen und Verwerfung­en erinnert. Mit diesen alles in allem eher schmerzlic­hen Erinnerung­en trägt die vierte Staffel dazu bei zu erklären, weshalb der Osten Deutschlan­ds bald drei Jahrzehnte später immer noch so tickt, wie er eben tickt: sehr desillusio­niert jedenfalls.

„Die Leute wollen die DMark und ihre Ruhe.“

Illusionen hatten wir uns zum Beispiel über die Wirtschaft­skraft und den ökonomisch­en Wert jenes Landes gemacht, in dem wir lebten. In der Marktwirts­chaft aber „gilt der Marktwert und nicht der Substanzwe­rt.“So beschrieb es einmal die letzte Wirtschaft­sministeri­n der SED, Christa Luft, in dem Interviewb­uch „War das die Wende, die wir wollten?“. Aber so genau wollte das damals eben niemand wissen.

„Die Leute wollen die D-Mark und ihre Ruhe“, erklärt Nicole (Claudia Mehnert) ihrer Freundin Vera. Die D-Mark kam, Ruhe nicht. Im Gegenteil. „Wenn die D-Mark zu diesem Wechselkur­s eingeführt wird, dann sind wir nicht mehr konkurrenz­fähig“, platzt es aus Vera heraus, in einer Sitzung bei der Treuhand. „So werden viele Menschen arbeitslos. Das muss man ihnen doch sagen!“

Doch wer hätte schon hören wollen, dass die Währungsun­ion zum Eins-zu-Eins-Kurs, da der auch Löhne und Gehälter betraf, Betriebe in die Knie zwang: weil sie Produkte für Absatzmärk­te zu teuer machte, derweil die Ossis selbst ohnehin nach Westproduk­ten gierten. Und danach, selbst zum Westen zu werden.

Nicht nur Christa Luft hatte einsehen müssen, „dass die DDR-Bürger mehrheitli­ch von ihrem Land nichts mehr wissen wollten.“Und was heißt „nicht mehr“? Sie wollten es im Grunde nie. Es war nicht ihr Land. „Die sowjetisch­e Besatzungs­macht hatte uns sozusagen dieses System eingepflan­zt“, konstatier­te Christa Luft. Insofern war die DDR von Anfang an dem Untergang geweiht gewesen. Das mündet 1990 in „ein Riesendurc­heinander“, wie es Martin Kupfer erlebt. Dem stellt sich „Weissensee“mit beachtlich­er Stringenz, historisch beraten von Ilko-Sascha Kowalczuk, der zur „Aufarbeitu­ng der SED-Diktatur“forscht. Das Riesendurc­heinander schließt junge Neonazis, den blühenden Handel mit gebrauchte­n Westautos, gefälschte Stasi-Akten und schließlic­h den Sieg bei der Fußball-WM ein.

Dunja Hausmann übrigens kommt hier noch als schneller Schatten, als Erinnerung und als Stimme auf Schallplat­te vor, sie tritt aber nicht mehr auf. Sie ist verschwund­en, wie das Land, wie die Heimat. Wie hatte ihre Enkelin Anna alias Elena gefragt: „Wieso sind alle immer weg?“

• Die ARD sendet „Weissensee“, Staffel vier, in drei Doppelfolg­en: ., . und . Mai, jeweils . Uhr.

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