Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Im Laufschritt von Marx zum Struwwelpeter
Gerade ist das MarxEvent verrauscht: In Jena haben unglaubliche 2000 (!) Symposiasten begierig geprüft, ob Marx’ 11. Feuerbachthese auch heuer gilt, nach der die Philosophen die Welt ganz unterschiedlich interpretieren ohne sich ernsthaft an deren Veränderung zu wagen. Gut, dass wir wieder einmal darüber gesprochen haben!
Doch der EventExpress kennt keine Gnade: Dieser Tage ruft der 44. Töpfermarkt nach Bürgel. Danach heißt es schon wieder den kulturvollen Blick nach Bad Tabarz zu richten, wenn im StruwwelpeterPark die alljährlichen Märchenspiele zur Erinnerung an Heinrich Hoff mann zelebriert werden. Der unter Kindern und Erwachsenen nicht weniger als Karl Marx bekannte Psychiater Hoffmann hat zwischen 1884 und 1894 regelmäßig seine Sommerfrische im thüringischen Tabarz verbracht.
Das rechtfertigt natürlich noch nicht das Event in Tabarz, auch nicht die Tatsache, dass der am 13. Juni 1809 in Frankfurt am Main geborene Arzt, Schriftsteller und Politiker der preußischen Erbmonarchie anhing und viel für die medizinische Versorgung der Armen dieser Gesellschaft geleistet hat. Hoffmann hat ein schriftliches Werk verfasst, das weltweite Verbreitung findet. In Erziehungsfragen setzt es bei Freund und Feind mit kontroversen Debatten pädagogische Maßstäbe. Hoffmans Maxime fanden in einem Namen Platz: „Struwwelpeter“.
Das kam so: „Gegen Weihnachten des Jahres 1844, als mein ältester Sohn drei Jahre alt war, ging ich in die Stadt, um demselben zum Festgeschenke ein Bilderbuch zu kaufen, wie es der Fassungskraft des kleinen menschlichen Wesens in solchem Alter entsprechend schien. Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie: ‚Das brave Kind muss wahrhaft sein‘; oder: ‚Brave Kinder müssen sich reinlich halten‘ usw.“
Hoffmann zeichnete und schrieb sein pädagogisches Glaubensbekenntnis selber: „Das Heft wurde eingebunden und auf den Weihnachtstisch gelegt. Die Wirkung auf den beschenkten Knaben war die erwartete; aber unerwartet war die auf einige erwachsene Freunde, die das Büchlein zu Gesicht bekamen. Von allen Seiten wurde ich aufgefordert, es drucken zu lassen und es zu veröffentlichen. Ich lehnte es anfangs ab; ich hatte nicht im entferntesten daran gedacht, als Kinderschriftsteller und Bilderbüchler aufzutreten.“
1845 erschien das Buch zum ersten Mal im Druck unter dem Titel „Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3–6 Jahren“, aber seit der 4. Auflage (1847) schließlich unter dem Titel „Struwwelpeter“.
Hoffmann war ob der Wirkung seiner Geschichten beeindruckt. Am Ende zeigte er sich glücklich: „Ja, ich kann mit Befriedigung sagen, der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Erde herumgekommen als ich; ich habe gehört, dass man ihnen in Nordund Südamerika, ja am Kap der guten Hoffnung, in Indien und Australien begegnet ist.“Auf allen Kontinenten kennt man die Geschichten von den Kindern, die nicht brav sind, nicht auf ihre Eltern hören und denen deshalb ein ausgesprochen grausames Unheil widerfährt.
Der „bitterböse Friederich“, der Tiere quält, wird drastisch bestraft („Da biss der Hund ihn in das Bein, recht tief bis in das Blut hinein“); Paulinchen verbrennt, weil sie mit Streichhölzern spielt; die Kinder, die den afrikanischen Migranten verspotten, werden in ein riesiges Tintenfass gestopft; dem Konrad werden vom Schneider die Daumen abgeschnitten, weil er heimlich daran nuckelt und so weiter. Daneben steht aber auch die Geschichte vom Hasen, der den Jäger mit dessen eigener Flinte aufs Korn nimmt.
Zu allen Zeiten und auf der ganzen Welt haben Menschen Adaptionen des „Struwwelpeters“veröffentlicht, die dem Geschehen ein modernes Äußeres verleihen sollten, den politischen Wandlungen Rechnung trugen und den jeweiligen Zeitgeist reflektierten. Die Zahl der Variationen ist wohl nur den akribischen wissenschaftlichen Forschern bekannt.
In Tabarz bekommt man auch schon einen hübschen Einblick in die thüringische Begeisterung für den kleinen Mann mit dem wirren Haarschopf. Doch jetzt nur ganz schnell weiter zur Schlössernacht nach Dornburg…