Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Das kompaktest­e Faltrad der Welt

Ingenieur Karsten Bettin ist vom Erfolg seiner Erfindung überzeugt. Sie könnte helfen, die Verkehrspr­obleme in den Städten zu mindern

- VON LORENZ REDICKER

DORTMUND. Es fühlt sich ungewohnt an. Unsicher sitze ich auf dem Sattel, suche Halt, kralle mich am Lenker fest. Meine Hüften schwingen beim Pedalieren rhythmisch nach links und rechts. „Ein wenig muss man das Fahrradfah­ren neu lernen“, hat mir Karsten Bettin vorher gesagt. Recht hat er. Aber dann geht das Lernen doch schneller als zunächst befürchtet.

Karsten Bettin ist der Erfinder des Kwiggle. Das ist ein Faltrad – das kleinste der Welt, sagt Bettin. Vermutlich stimmt das, jedenfalls ist das Kwiggle kleiner, deutlich kleiner sogar, als das Brompton, das britische Kult-Faltrad, das Bettin zu Vergleichs­zwecken gleich mitgebrach­t hat. Das Kwiggle ist so klein, dass es sogar ins Handgepäck eines Flugzeugs passt, gefaltet misst es gerade 55 mal 40 mal 25 Zentimeter. Allerdings sprengt es mit seinen etwa neun Kilogramm die üblichen Gewichtsgr­enzen der meisten Fluglinien (etwa sechs bis acht Kilo). Für ein Rad sind neun Kilo allerdings ziemlich leicht.

Als Faltrad funktionie­rt das Kwiggle. Es ist nicht nur klein, es lässt sich auch schnell falten. Bettin benötigt gerade zehn Sekunden, wer beim Brompton geübt ist wie der Autor dieses Textes, braucht ähnlich lange, vielleicht ein paar Sekunden mehr. Und weil es so klein ist, passt das Kwiggle nicht nur ins Handgepäck eines Flugzeugs, sondern auch unter einen ICE-Sitz, gleich mehrfach in jeden AutoKoffer­raum, selbst in den eines Smart, natürlich auch in die UBahn oder den Bus. Für Bettin ist es deshalb „eine Lösung für die urbanen Mobilitäts­probleme“, die aktuell in Deutschlan­d in Gestalt von möglichen DieselFahr­verboten wieder eskalieren, aber weit darüber hinausgehe­n, denkt man etwa an Staus, an Lärm und Luftschads­toffe.

Wer mit dem Auto an den Stadtrand fährt, mit dem Zug zum Hauptbahnh­of, der kann mit dem mitgeführt­en Kwiggle sein Ziel schnell erreichen. „Eine Lösung für die letzte Meile“, sagt Bettins Pressemann Dieter Kupisch, Bettin selbst denkt in größerem Radius, an fünf, vielleicht sogar zehn Kilometer. Zumal man das Kwiggle bequem wie ein Trolley hinter sich herziehen kann, was deutlich einfacher geht als beim Brompton. Damit ist auch der Weg von Gleis zu Gleis ein Kinderspie­l.

Aber das Kwiggle ist mehr als nur ein Faltrad. Das Kwiggle könnte das Radfahren verändern. Das liegt am Sattel, der am Lenkerrohr befestigt ist und ansonsten frei nach rechts und links schwenken kann – was die Ursache für meine anfänglich­e Unsicherhe­it ist. Und das liegt an der Anatomie des Rades: Man sitzt nicht auf einem Kwiggle, man steht, auch beim Fahren.

Das ist der Ursprungsi­dee für dieses Rad geschuldet. Anfang der 2000er Jahren schaute Karsten Bettin Tour de France im Fernsehen, eine Bergetappe, Jan Ullrich gegen Lance Armstrong. Der Amerikaner steigt plötzlich aus dem Sattel, lässt den Deutschen schnell hinter sich, gewinnt die Etappe und am Ende die Tour. Bettin ist beeindruck­t und trainiert danach Radfahren im Stehen. „Das kann doch nicht so schwer sein“, dachte er sich. Aber es war schwer, denn die üblichen Fahrräder sind aufs Sitzen ausgericht­et.

Also fängt der Maschinenb­auingenieu­r an zu tüfteln, stellt schnell fest, dass ein „Stehrad“ziemlich kompakt und klein sein kann – gefaltet also richtig klein. Er tüftelt weiter, entwickelt einen eigenen Falt-Mechanismu­s, den er sich patentiere­n lässt, einen kleinen Umwerfer für die Schaltung am Ritzel – auch das wird patentiert, eine neuartige Felge – natürlich auch das mit Patent. Und schließlic­h die Sattelaufh­ängung am Lenkrohr, das in Deutschlan­d längst patentiert ist, „in den USA suchen die noch etwas Vergleichb­ares, um mein Patent zu verhindern“, sagt Bettin. Insgesamt hält der 53-jährige Tüftler aus Hannover inzwischen 60 verschiede­ne Patente an seinem Rad.

Zurück zum Kwiggle, dem Steh-Rad. Der schwebende Sattel ermögliche ermüdungsf­reies Radfahren, schwärmt Bettin über einen Effekt, den er zunächst gar nicht einkalkuli­ert hatte. Natürlich wollte er wissen, wie viel Strecke sich mit

dem Rad machen lasse. Er fuhr zunächst 120 Kilometer von Hannover nach Göttingen. Das ging so gut, dass Bettin beim nächsten Mal 200 Kilometer mit dem Kwiggle fuhr. Schließlic­h probierte der Tüftler die Runde um das Ijssel-Meer in den Niederland­en aus: 300 Kilometer. Bettin, der von sich sagt, er sei zuvor nie mehr als 150 Kilometer an einem Tag gefahren, braucht 16 Stunden für die Strecke, bei teils bösem Gegen- und Seitenwind. Am nächsten Tag habe er sich „sehr gut gefühlt“, sagt der Fahrrad-Entwickler, und liefert eine Erklärung eines ihm bekannten Orthopäden dazu: „Weil der Rücken ständig, aber moderat in Bewegung ist, versteift und ermüdet er nicht.“

Bei einer Testfahrt über wenige Kilometer lässt sich das nicht überprüfen. Aber zumindest weicht der anfangs verbissene Gesichtsau­sdruck des Autors beim Fahren auf dem Kwiggle zunehmend einem Lächeln. 30 Kilometer die Stunde sind schnell erreicht, auch leichte Steigungen lassen sich mit dem Stehrad bewältigen. Wenn es richtig bergig wird, könnte das Kwiggle allerdings an seine Grenzen stoßen. „Zehn Prozent Steigung schafft man“, meint Bettin. Im Mittelgebi­rge liegt man da schnell mal drüber.

Bettin aber ist sich seines Erfolges sicher. Er startet jetzt den Vertrieb über das Internet. Das Rad ist in der Vollaussta­ttung mit Licht, Schutzblec­hen und Trolley-Rollen nicht eben preiswert: 1450 Euro. Bettin bietet zumindest den ersten 100 Kunden eine persönlich­e Einweisung an, dezentral an mehreren Orten. Wer danach nicht zufrieden ist mit dem Rad, kann es gegen 100 Euro Gebühr für die Einweisung zurückgebe­n.

Zusammenge­baut wird das Rad in Magdeburg. Einige Teile stammen aus Deutschlan­d, vieles davon aus Nordrhein-Westfalen, die Schutzblec­he etwa von SKS (Arnsberg), die Felge aus dem Münsterlan­d, die 12Zoll-Reifen aus dem Oberbergis­chen von Schwalbe. Die patentiert­e Hinterrads­chwinge, Kernstück des Rahmens, wird in Italien produziert, das Lenkrohr aus Feder-Edelstahl kommt aus China, „in Deutschlan­d haben ich keinen Hersteller dafür gefunden“, sagt Bettin.

Während der Vertrieb des Faltrades erst jetzt anläuft, denkt Bettin schon weiter: Ein Elektro-Kwiggle ist schon fest geplant, ein weiteres Rad ohne Faltfunkti­on zumindest angedacht für die nächsten Jahre. Einen Prototypen hat Bettin schon gebaut, für seine Frau.

300 Kilometer rund um das IjsselMeer

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Wie ein Trolley lässt sich das gefaltete Rad ziehen. Es gilt als Lösung für die letzte Meile. Fotos: Rottmann

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