Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Technische Textilien für Autos in aller Welt
Vogtländisches Unternehmen besteht seit 150 Jahren. Auf die Entwicklungen von C. H. Müller setzen inzwischen viele Fahrzeughersteller
In einer hohen, lichtdurchfluteten Halle steht Elisabeth Müller unter einer Rolle mit einem Verbundmaterial, das später seinen Weg in den Innenraum tausender Autos finden wird.
Die angehende Textilveredlerin prüft das Gewebe auf Fehler, während sich die Rolle unter leisem Surren langsam weiterdreht. Der niedrige Geräuschpegel in dem vogtländischen Textilunternehmen verrät nichts mehr von den Ursprüngen als Weberei vor 150 Jahren, als das Klackern der Webstühle allgegenwärtig war.
Nur der Name – C. H. Müller – erinnert noch an den 1868 von Carl Heinrich Müller gegründeten Betrieb. Heute sind die Vogtländer Spezialisten für kaschierte Verbundmaterialien aus Textil, Kunst- und Echtleder. Als Kaschieren bezeichnet man den Prozess, bei dem mehrere Lagen gleicher oder verschiedener Materialien miteinander verbunden werden, erläutert Geschäftsführer Philipp Porst. Gemeinsam mit seinem Vater Thomas führt der 39-Jährige das Familienunternehmen in sechster Generation. Die kleine Handweberei von einst hat sich nach der Zwangsverstaatlichung 1972 und der Reprivatisierung 1990 zu einem Mittelständler mit rund 400 Mitarbeitern entwickelt, an dem die Automobilbranche nicht vorbeikommt. „Wir arbeiten mit allen deutschen Autoherstellern und weiteren weltweit zusammen“, sagt Philipp Porst.
Mit einem Umsatz von rund 70 Millionen Euro im Jahr sind die Vogtländer nach eigenen Angaben europaweit Marktführer. Dabei war der erste Schritt in diese Richtung eine große Wette: Dem Zulieferer der Schuhindustrie in der DDR und im damaligen Ostblock brachen mit der Wende die Aufträge weg. Binnen Wochen blieben von mehr als 90 Mitarbeitern noch 32 übrig.
Der Seniorchef setzte kurzerhand auf die Automobilindustrie und machte sich ans Klinkenputzen. „Damals hat keiner auf einen Newcomer aus der sächsischen Provinz gewartet“, erinnert sich sein Sohn. Ein Dachhimmel für Opel öffnete schließlich erste Türen.
Flugzeugbauer und Bahn werden beliefert
Inzwischen seien die technischen Textilien des Unternehmens in zahlreichen Bauteilen deutscher Automarken wie VW, Audi oder Mercedes verbaut. Allein die Marke mit dem Stern bezieht demnach jeden Tag 20.000 Einzelteile aus dem Vogtland. Pro Woche verlassen mehr als 200.000 Meter Fertigware – auf Rollen oder als Zuschnitt – die beiden Werke in Heinsdorfergrund nahe Reichenbach, berichtet der Diplom-Ingenieur für Textil- und Ledertechnik. Hinzu kommen zwei weitere Fertigungsstandorte in Netzschkau und seit gut einem Jahr ein Werk im US-Bundesstaat South Carolina. Darüber hinaus beliefert das Unternehmen Flugzeugbauer und die Deutsche Bahn. Die Abhängigkeit von der Autobranche sei mit einem Anteil von 85 Prozent aber groß, räumt der Firmenchef ein. Der Hick-Hack um das verschärfte Messverfahren für Abgastests (WLPT) kam demnach auch bei dem Zulieferer in der zweiten Reihe an. „WLPT hat uns getroffen wie ein Hammer. August und September waren harte Monate, in denen wir bis zu 25 Prozent weniger Umsatz gemacht haben.“Vor allem die schlechte Kommunikation seitens der Autohersteller habe viele Fragen hinterlassen.
Von einer spürbar rückläufigen Nachfrage berichten nach Angaben des Branchenverbands vti auch andere Unternehmen der ostdeutschen Textilindustrie, insbesondere die Automobil-Zulieferer. „Da diese Entwicklung zumindest mittelfristig anhalten wird, rechnen wir für das laufende Jahr im Vergleich zu 2017 bestenfalls mit einem minimalen Wachstum“, so die Einschätzung von Hauptgeschäftsführer Jenz Otto. Gegenwärtig beschäftigt die Branche rund 16.000 Menschen in 350 Betrieben und machte zuletzt einen Umsatz von 1,87 Milliarden Euro.
Der Wandel, den die Autobranche derzeit erlebt, bereitet dem vogtländischen Spezialisten hingegen weniger Kopfzerbrechen. Gerade bei Elektroautos spiele das Interieur noch einmal eine größere Rolle, meint Porst. So seien beispielsweise aufgrund der fehlenden Motorabwärme textile Verkleidungsteile mit entsprechenden Eigenschaften gefragt.
Aber auch die Digitalisierung biete neue Ansätze. Während man heute noch das Ladekabel in der Tasche oder im Auto haben sollte, wenn der Akku von Smartphone oder Tablet schwächelt, werde es zukünftig reichen, das Gerät zum Induktionsladen auf dem Beifahrersitz abzulegen.
Die textilen Strukturen dazu sollen aus dem Vogtland kommen. (dpa)