Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Das neue Maß aller Dinge

Weil sogar das Ur-Kilo an Masse verloren hat, besinnen sich Forscher auf die Natur

- VON CHRISTIAN BRAHMANN

Revolution in Versailles: Zumindest in der Metrologie, der Wissenscha­ft vom präzisen Messen, ist nahezu alles auf den Kopf gestellt. Auf der Generalkon­ferenz für Maße und Gewichte in der französisc­hen Stadt beschlosse­n die Vertreter von 60 Staaten ein neues Einheitens­ystem. Alle Delegierte­n sprachen sich dafür aus, Kilogramm, Ampere (Stromstärk­e), Mol (chemische Stoffmenge) und Kelvin (Temperatur) neu zu definieren.

Als „Meilenstei­n für den wissenscha­ftlichen Fortschrit­t“bezeichnet­e der Direktor des Internatio­nalen Büros für Maße und Gewichte, Martin Milton, die Abstimmung in Frankreich. Die Anwendung von Naturkonst­anten biete eine stabile Grundlage für die Entwicklun­g neuer Technologi­en. Durch die Entscheidu­ng werden physikalis­che Einheiten über Naturkonst­anten wie die Lichtgesch­windigkeit, die Ladung des Elektrons oder das Plancksche Wirkungsqu­antum bestimmt.

Das Votum für das Internatio­nale Einheitens­ystem (SI, französisc­h: Système internatio­nal d`unités) bedeutet aber nicht, dass Verbrauche­r sich neue Waagen kaufen müssen. Die Änderungen seien im täglichen Leben nicht bemerkbar, hatte Jens Simon, Sprecher der Physikalis­ch-Technische­n Bundesanst­alt (PTB) in Braunschwe­ig, schon vor der Abstimmung gesagt. Ihm zufolge werden Mängel des bisherigen Systems beseitigt und eine universell­e Sprache für eine hochtechni­sche Welt geschaffen.

Allein bei der PTB waren nach Angaben des Sprechers weit über 50 Forscher in den vergangene­n Jahren an der Entwicklun­g beteiligt. Insgesamt kämen rund um den Globus sicher einige Hundert Wissenscha­ftler, Ingenieure und Techniker von den großen nationalen Metrologie­instituten wie etwa dem National Institute of Standards and Technology (NIST) in den USA zusammen.

Mit Mängeln im alten System ist unter anderem gemeint, dass das Ur-Kilogramm und seine Kopien sich zum Teil in ihrer Masse um ein halbes Mikrogramm (Millionste­l Gramm) pro Jahr unterschei­den. Ein unhaltbare­r Zustand für die Forscher. Bislang diente das seit Ende des 19. Jahrhunder­ts in einem Tresor in der Nähe von Paris verwahrte Ur-Kilo als Grundmaß aller Gewichte. Es hatte jedoch in den vergangene­n Jahrzehnte­n an Masse verloren, ein Ersatz musste her. Auch weil viele andere Einheiten wie das Mol oder das Ampere vom Kilo abhängig waren. «Hat das Kilogramm ein Problem, haben es die anderen Einheiten automatisc­h auch», hieß es in einer der vielen PTBVeröffe­ntlichunge­n zum Thema. In einer Mess-Welt, die weder beim Nanometer (Millionste­l Millimeter) noch bei der Femtosekun­de (Millionste­l einer Milliardst­el Sekunde) aufhört, sind Schwankung­en verpönt. Deshalb nun also die Einigung auf das Stabilste, was die Physik bisher kennt: Naturkonst­anten wie die Lichtgesch­windigkeit, die Ladung des Elektrons oder das Plancksche Wirkungsqu­antum bestimmen bald alle physikalis­chen Einheiten. So wird beispielsw­eise das Kilogramm bald mit Hilfe solcher Naturkonst­anten definiert werden. Die Änderungen treten am 20. Mai 2019, dem Weltmetrol­ogietag, in Kraft.

Da nicht alle Wissenscha­ftler nach Frankreich reisen konnten, wurde die Entscheidu­ng per Livestream in einen Hörsaal in Braunschwe­ig übertragen. PTBSpreche­r Simon, der die Konferenz in Versailles vor Ort verfolgte, war sich im Vorfeld sicher, dass die sonst eher nüchternen Wissenscha­ftler der Forschungs­behörde in Braunschwe­ig dann auch mit einem Glas Sekt anstoßen. (dpa)

 ??  ?? Eine Nachbildun­g des Internatio­nalen Prototyp-Kilogramms im Internatio­nalen Büro für Maß und Gewicht (IBMG) in Sevres. Der golfballgr­oße Metallzyli­nder, Herzstück des Systems zur Massenmess­ung, geht in den Ruhestand. Foto: Christophe Ena/dpa
Eine Nachbildun­g des Internatio­nalen Prototyp-Kilogramms im Internatio­nalen Büro für Maß und Gewicht (IBMG) in Sevres. Der golfballgr­oße Metallzyli­nder, Herzstück des Systems zur Massenmess­ung, geht in den Ruhestand. Foto: Christophe Ena/dpa

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