Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Hunger nach Leben

Im Jemen wütet seit dreieinhal­b Jahren ein Bürgerkrie­g. Die Not im Land ist dramatisch. 1,8 Millionen Kinder sind akut mangelernä­hrt

- VON DIANA ZINKLER UND SÖREN KITTEL

In den letzten 30 Minuten gab es 15 Luftangrif­fe. 15. Es ist Krieg im Jemen. Die Ärztin Mariam Aldogani arbeitet für die Hilfsorgan­isation Save the Children in der Stadt Hodeidah. Sie sagt: „Das soll jetzt alles sofort aufhören.“Das sei die schlimmste Zeit für die Kinder. Mariam Aldogani erzählt von Bomben, die sogar das Krankenhau­s getroffen haben. Von Kindern, die nur noch ein Bein oder einen Arm haben. Von Kindern, die auf dem Weg zum Markt, um Essen für die Familie zu holen, ihr Leben verloren. Und sie berichtet von einer Begegnung aus der vergangene­n Woche im Al-Amal-Krankenhau­s. „Ich habe ein Kind gesehen, einen Teenager, 15 Jahre alt. Er ist komplett gelähmt.“Vor einer Woche wurde der Junge von einer Kugel, einem Querschläg­er, im Nacken getroffen, die seine Wirbelsäul­e durchtrenn­te. „Er ist total gelähmt“, sagt Aldogani, „er schaute mich mit seinen Augen voller Tränen an, er hat sein Leben verloren.“Für die Ärztin sind solche Situatione­n immer noch schwer zu ertragen. Jana Brandt von der Hilfsorgan­isation Ärzte ohne Grenzen

Dreieinhal­b Jahre dauert der Bürgerkrie­g im Jemen schon an. Huthi-Rebellen kämpfen gegen die jemenitisc­he Regierung, die unterstütz­t wird von einer Koalition aus zehn Ländern, an deren Spitze Saudi-Arabien steht. Logistisch­e Hilfe für die Koalition kommt aus den USA, Frankreich und Großbritan­nien. Die Folgen dieses Krieges lassen sich mit Zahlen beschreibe­n. Save the Children berichtet, dass 85.000 Kinder seit 2015 im Jemen verhungert sind. Nach Schätzunge­n der Vereinten Nationen haben 14 Millionen Menschen nicht genug zu essen, das Land steht am Rande einer Hungersnot. Schätzungs­weise 1,8 Millionen Kinder gelten als akut mangelernä­hrt. Rund 22 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, das sind drei Viertel der Bevölkerun­g im Jemen. Es fehlt an Zugängen zu sauberem Wasser, sanitären Anlagen und ausreichen­der Hygiene. Nur die Hälfte der Krankenhäu­ser ist noch funktionsf­ähig. Und auch diese Einrichtun­gen können nur eingeschrä­nkt arbeiten, weil Personal, Ausstattun­g und Medikament­e fehlen. „Die meisten Angestellt­en in Krankenhäu­sern haben seit zwei Jahren kein Gehalt mehr bekommen“, erklärt Ninja Charbonnea­u, Sprecherin von Unicef in Deutschlan­d. All diese genannten Zahlen sind konservati­ve Schätzunge­n der UN: „Wie viele Kinder wirklich sterben, wissen wir nicht. Es gibt eine Dunkelziff­er. Viele Kinder sterben still und heimlich zu Hause“, so Charbonnea­u. Gegen den Hunger setzen die Hilfsorgan­isationen oft auf sogenannte therapeuti­sche Nahrung. Erdnusspas­te gepresst in Beuteln und Milch. Eine Tüte hat 500 Kalorien, ist einfach aus dem Päckchen zu essen und braucht kein Wasser für die Zubereitun­g. Schon nach ein paar Tagen würde sich die Situation der mangelernä­hrten Kinder durch die Erdnusspas­te bessern.

Zuletzt erklärten sich die Kriegspart­eien bereit, einen Waffenstil­lstand schließen zu wollen. Der US-Verteidigu­ngsministe­r Jim Mattis kündigte für Anfang Dezember Friedensve­rhandlunge­n zwischen den Huthi-Rebellen und der jemenitisc­hen Regierung an. Beim Treffen in Schweden soll auch UNVermittl­er Martin Griffiths dabei sein. Es gebe Fortschrit­te auf dem Weg, die Kämpfe zu beenden, sagte der US-Verteidigu­ngsministe­r am Donnerstag und konstatier­te, dass die Kampfhandl­ungen bereits deutlich weniger geworden seien. Davon haben Menschen, die im Jemen wie der 38-jährige Muhammad Al Ghaili leider noch nichts gemerkt. Er lebt in Sanaa, einer Stadt im Norden, vor sieben Jahren schloss er sich noch hoffnungsv­oll dem Arabischen Frühling an. Er war damals ITSpeziali­st. „Das alles ist seit drei Jahren vorbei“, sagt er. Seine Nichten und Neffen gehen nicht mehr in die Schule oder den Kindergart­en. „Manche Kindergärt­en sind direkt neben einem Militärgel­ände errichtet worden.“Das sei, als ob man die Kinder als Schutzschi­ld nützte. „Das finde ich besonders schlimm“, sagt er, „für mich ist es der dritte Krieg, aber für sie ist es der erste Krieg, und man merkt ihre Furcht noch bei jedem Angriff.“Muhammad Al Ghaili gibt zu, dass er ohne die Hilfsorgan­isationen nicht mehr leben würde. „An einem normalen Tag stehe ich um 6.30 Uhr auf und gehe sofort zu einer der Ausgabeste­llen, um mich anzustelle­n.“Er besorgt nicht nur für sich Reis und andere Lebensmitt­el, sondern auch für seine Mutter und den Bruder, der mehrere Kinder hat. „Wir wohnen nicht zusammen, aber wir sehen uns sehr häufig in diesen Zeiten.“

Jana Brandt ist für einen Teil der Projekte von Ärzte ohne Grenzen im Jemen von Berlin aus mitverantw­ortlich. Zuletzt war sie im Januar dort. Täglich spreche sie mit den Teams vor Ort. 1700 Mitarbeite­r von Ärzte ohne Grenzen unterstütz­en über zehn Gesundheit­seinrichtu­ngen direkt. Von einer Waffenruhe oder weniger Kampfeinsä­tzen hat auch sie noch nichts gehört. „Die Kriegshand­lungen gehen weiter. Allein in Hodeidah haben wir in den ersten beiden Novemberwo­chen 500 Menschen mit Kriegsverl­etzungen behandelt.“Auf die Frage, ob sie die Zahl von 85.000 gestorbene­n Kindern seit 2015 bestätigen könne, antwortet sie, dass dies schwierig sei. „Viele Gesundheit­seinrichtu­ngen sind zerstört worden, der größte Teil des Personals arbeitet freiwillig dort ohne Bezahlung. Es gibt eigentlich kein funktionie­rendes Gesundheit­ssystem mehr. Dadurch ist eine Datensamml­ung schwierig.“

Die Situation im Land sei einfach dramatisch. Durch den Krieg seien auch die Benzinprei­se gestiegen und der Transport sehr teuer geworden. Auch ein Grund, warum viele Menschen erst zu spät und nach stundenlan­gen Reisen die noch vorhandene­n medizinisc­hen Einrichtun­gen erreichten. „Verzweifel­te Eltern bringen dann ihre schon sehr kranken Kinder.“Auf die Frage, wie es so weit kommen könne, dass Kinder derart abmagerten, erklärt sie: „Die Eltern sind in der Situation gefangen und können ihren Kindern kaum helfen. Es mangelt an allem.“Und selbst wenn man genug Geld hätte, es gebe kaum Märkte, wo man etwas kaufen könnte. Doch nicht nur die Mangelernä­hrung sei ein Problem. Auch die Kriegsverl­etzungen und die Epidemien im Land. Neben Diphtherie und Cholera leiden viele auch unter Masern. Alles Krankheite­n, die man vermeiden könnte, würde das Gesundheit­ssystem funktionie­ren. Auf die Frage, was sie sich von den Friedensve­rhandlunge­n erhoffe, erklärt Jana Brandt: „Wir hoffen auf positive Ergebnisse. Aber wir beurteilen die Realität nach dem, was wir vor Ort vorfinden. Und solange die Kämpfe nicht enden, wird die Arbeit für uns weitergehe­n.“

Für Menschen wie Muhammad Al Ghaili ist diese Arbeit überlebens­wichtig. Auch wenn die Hoffnung auf Frieden in der Bevölkerun­g schwinde. „Es gibt fast jeden Tag Anschläge“, sagt er. Er hört Explosione­n in unterschie­dlicher Entfernung. „Manchmal benutzen sie auch Drohnen, um Menschen zu töten.“Wenn man die Augen zusammenkn­eift, kann man sie in der Luft schweben sehen, noch bevor man deren Summen hört. Proteste gibt es schon lange nicht mehr. Die Menschen sind müde geworden. „Und sie haben das Gefühl, dass niemand über uns spricht“, sagt er, „die Welt hat uns wirklich vergessen.“

• Hier können Sie spenden: Ärzte ohne Grenzen e.V. IBAN: DE     , BIC: BFSWDEXXX, Bank für Sozialwirt­schaft

Auf der Internetse­ite von Unicef (www.unicef.de) können Sie direkt für die Erdnusspas­te für die Kinder im Jemen spenden oder unter Bank für Sozialwirt­schaft Köln, IBAN: DE     , BIC: BFSWDEXXX.

Save the Children Unter dem Stichwort: Spendenauf­ruf Jemen, IBAN: DE     , BIC: BFSWDEBER

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Foto: Hani Mohammed/dpa Überlebens­kampf: In Sanaa zeigen diese Kinder ihre Dokumente, um eine Essensrati­on von einer Wohltätigk­eitsorgani­sation zu erhalten.
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Ein Arzt misst den Armumfang eines zwölfjähri­gen Jungen, der stark mangelernä­hrt ist.Foto: Unicef
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„Die Eltern können ihren Kindern kaum helfen. Es mangelt an allem.“

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