Thüringische Landeszeitung (Gotha)

„Jede Frau hat Anspruch auf Schutz“

Grünen-Chefin Annalena Baerbock über Ursachen von Gewalt gegen Frauen – und neue Antworten des Staates darauf

- VON JULIA EMMRICH UND JOCHEN GAUGELE

Über den Höhenflug ihrer Partei – das jüngste ZDF-„Politbarom­eter“sieht die Grünen bei 22 Prozent – spricht Annalena Baerbock nicht gerne. Sie will sich auf Themen konzentrie­ren, die ihr am Herzen liegen. Dazu gehört der Kampf gegen Übergriffe auf Frauen, die noch immer zum deutschen Alltag gehören – und die sie selbst schon erlebt hat.

Die neue Kriminalst­atistik zeigt: Frauen droht Gewalt vor allem in den eigenen vier Wänden – meist durch den eigenen Partner. Was muss geschehen, Frau Baerbock?

Annalena Baerbock: Gewalt gegen Frauen zieht sich durch alle Bevölkerun­gsschichte­n. Mehr als jeden dritten Tag wird bei uns im Land eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Es ist erschrecke­nd, dass dies über Jahrzehnte kein Thema war. Und dass nach wie vor etwa Schutzplät­ze für Frauen in Notsituati­onen fehlen. Deutschlan­d muss jetzt die IstanbulKo­nvention des Europarats erfüllen – und unter anderem einen Rechtsansp­ruch auf Schutz schaffen.

Bedeutet konkret?

Frauen, die um ihr Leben fürchten, dürfen nicht vor verschloss­enen Türen stehen. Das internatio­nale Übereinkom­men zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen schreibt deshalb vor, dass ausreichen­d Plätze in Frauenhäus­ern zur Verfügung stehen müssen. Rechnerisc­h heißt das, es muss auf 7500 Einwohner ein Platz kommen. In Deutschlan­d fehlen demnach mindestens 4000 Schutzplät­ze. Um diese Lücke zu schließen, braucht es nicht nur – wie gerade von der Bundesregi­erung beschlosse­n – Mittel für ein besseres Hilfetelef­on. Denn es bringt wenig, wenn eine Frau in Not dort anrufen kann, aber keinen Ort hat, an dem sie Schutz findet. Deshalb müsste die Bundesregi­erung statt 30 Millionen ein Vielfaches zur Verfügung stellen. In einem reichen Land wie Deutschlan­d sollte uns der Schutz von Frauen das wert sein.

Haben Sie sich selbst schon bedroht gefühlt als Frau?

Ja. Jede Frau in Deutschlan­d kennt sicherlich Situatione­n, in denen ihr mulmig ist. Man hält im Dunkeln den Haustürsch­lüssel so, dass vorne die Spitze rauskommt und man möglichst schnell ins Haus reinkommt. Oder man tippt auf dem Handy eine Nummer ein, die man im Notfall wählen kann. Oder man wechselt mit Herzrasen und Wut im Bauch die Straßensei­te, weil einem an Himmelfahr­t eine Gruppe von betrunkene­n Männern mit Bollerwage­n den Weg versperrt und pöbelt. Wir müssen Mädchen schon im Kindesalte­r Mut machen, sich gegen Übergriffe zu wehren und zu sagen: Stopp. Ich weiß aus meiner Kindheit, wie es ist, im Bus zu sitzen, und plötzlich legt dir ein älterer Herr die Hand aufs Bein.

In männerdomi­nierten Gesellscha­ften ist Gewalt gegen Frauen oft Alltag. Auch viele Zuwanderer kommen aus Familien, in denen die gleichbere­chtigte Stellung von Frauen nicht vorgelebt und anerzogen wird. Für die Integratio­n ist das ein Problem. Lässt sich das lösen?

Weder die Staatsange­hörigkeit noch die Religion machen jemanden zum Gewalttäte­r. Was wir sehen müssen, ist, dass Gewalt häufiger entsteht, wenn bestimmte Faktoren zusammenko­mmen: In jedem Land der Welt sind gerade junge Männer eher anfällig. Es spielen die eigene Gewalterfa­hrung, falsche Vorbilder, gewaltlegi­timierende Männlichke­itsnormen, Perspektiv­losigkeit oder der Bildungsgr­ad eine Rolle. Solche Strukturen gilt es aufzubrech­en. Aber egal, welches Land, egal, welcher Täter: Nichts, rein gar nichts rechtferti­gt Gewalt gegen Frauen – kein Alkohol, kein Ehekrach und keine noch so

traumatisc­he Fluchterfa­hrung.

Wie ordnen Sie Fälle wie in Freiburg ein: die Gruppenver­gewaltigun­g einer 18-Jährigen durch Flüchtling­e?

Die furchtbare Tat in Freiburg hat auch mich schockiert. Und es ist ein Problem, dass ein Haftbefehl, der vor der Tat auf dem Tisch lag, nicht vollstreck­t wurde. Insgesamt muss die Gesellscha­ft sich der Frage stellen, wie man präventiv tätig werden kann, um solche schrecklic­hen Verbrechen zu verhindern.

An welche Art der Vorbeugung denken Sie?

Es fängt damit an, sexuelle Belästigun­g nicht einfach abzutun nach dem Motto: Stell dich nicht so an. In der Öffentlich­keit und auch in den Schulen muss unmissvers­tändlich klargemach­t werden, dass Mädchen und Jungs, Männer und Frauen die gleichen Rechte haben und Gewalt und Verächtlic­hmachung niemals geduldet werden. Auch in den Integratio­nskursen für Flüchtling­e muss das ein wichtiger Bestandtei­l sein.

 ?? Foto: Reto Klar ?? Grünen-Chefin Annalena Baerbock vor ihrem Bundestags­büro. „Weder die Staatsange­hörigkeit noch die Religion machen jemanden zum Gewalttäte­r.“
Foto: Reto Klar Grünen-Chefin Annalena Baerbock vor ihrem Bundestags­büro. „Weder die Staatsange­hörigkeit noch die Religion machen jemanden zum Gewalttäte­r.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany