Thüringische Landeszeitung (Gotha)

„Gratis-Kita-Jahr hilft sozial Schwachen nicht“

In Thüringen ist das Jahr vor der Einschulun­g kostenfrei – Erfurter Sozialfors­cher Marcel Helbig hat allerdings Zweifel

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Ein weiteres kostenlose­s Kita-Jahr hätte nach Ansicht des Erfurter Sozialfors­chers Marcel Helbig keinen Einfluss auf den Bildungser­folg von Kindern aus sozial schwachen Familien. „Mit dem kostenlose­n Kita-Jahr wird vor allem höheren Schichten Geld erlassen“, sagte der Professor für Bildung und soziale Ungleichhe­it an der Universitä­t Erfurt.

Je nach Kommune müssten Eltern aus sozial schwachen Schichten auch bisher wenig bis gar keine Kita-Beiträge zahlen, erklärte Helbig. Der Wissenscha­ftler kritisiert­e, dass in Thüringen ausgerechn­et das letzte Kita-Jahr für die Eltern kostenlos ist.

„Studien zeigen, dass die Bildungsch­ancen von Kindern aus unteren sozialen Schichten steigen, wenn diese schon früh eine Kita besuchen – ab dem Alter von einem oder zwei Jahren“, sagte Helbig. Ihm sei dagegen keine einzige Studie bekannt, die Effekte des letzten Kita-Jahres vor der Schule auf den Bildungser­folg von Kindern nachgewies­en hätte.

In der Vergangenh­eit hatten die Autoren mehrerer Studien auf den positiven Einfluss der frühkindli­chen Bildung auf Kinder sozial schwacher Familien hingewiese­n – etwa in einer aktuellen OECD-Studie oder in einer Analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft zur Bildungsge­rechtigkei­t in Deutschlan­d von 2016.

Seit diesem Jahr ist im Freistaat das letzte Kita-Jahr vor der Einschulun­g kostenlos. Die rotrot-grüne Landesregi­erung erwägt zudem, ein weiteres gebührenfr­eies Jahr einzuführe­n. Thüringens Bildungsmi­nister Helmut Holter (Linke) hatte vorgeschla­gen, dafür Geld vom Bund zu verwenden, das über das geplante Gute-Kita-Gesetz nach Thüringen fließen soll. Die CDU will sich dagegen für kostenlose­s Essen in den Kita-Einrichtun­gen einsetzen, wie CDULandesc­hef Mike Mohring bei einem Landespart­eitag im Oktober angekündig­t hatte.

„Tatsächlic­h ist es schwierig für jemanden, der von Transferle­istungen lebt, die Kosten für das Kita-Essen zu stemmen“, sagte Helbig. Ob die Kosten für das Essen aber Eltern daran hinderten, ihre Kinder in eine Kita zu schicken, bleibe ungeklärt. Laut Helbig seien es gerade die Kinder aus bildungsfe­rnen und sozial schwachen Schichten, die oft keine Kita besuchten. „Das sind zugleich diejenigen Kinder, die am stärksten von der Kita profitiere­n würden“, erläuterte der Forscher. Auch für Kinder mit Migrations­hintergrun­d könne ein Kita-Besuch positive Effekte haben – etwa wenn im Elternhaus kein oder kaum Deutsch gesprochen werde.

Als gänzlich kontraprod­uktiv nannte Helbig finanziell­e Anreize, Kinder zuhause zu erziehen. Als Beispiel nannte er die Einführung eines Erziehungs­geldes in Thüringen unter der CDU-geführten Regierung von Dieter Althaus im Jahr 2006. „Dazu gibt es Untersuchu­ngen, die zeigen, dass sich alle Befürchtun­gen bewahrheit­eten“, sagte Helbig. So hätten etwa Eltern ihre Kinder von der Kita abgemeldet, um das Erziehungs­geld zu bekommen. (dpa)

Holter: Geld vom Bund verwenden

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