Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Auf der Suche nach dem Gespräch mit „richtigen Leuten“

Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) will im Bürgerdial­og Lösungen für die Zukunftspr­obleme der Arbeitswel­t finden und warnt vor politische­r Scharlatan­erie

- VON FRANK SCHAUKA

Rechts neben dem jungen Mann im Rollstuhl sitzt im Volkshaus zu Jena auf einem der vorgefalte­ten Pappwürfel ein etwas älterer Herr, nicht so modisch gewandet wie der Student fünf Meter zur Linken, den die Moderatori­n gleich zu Beginn gern zu Wort kommen ließ. Der Mann hebt den Arm und wartet. Nach einer Weile senkt er ihn wieder, schweigend, und blickt fragend in die Runde der zahlreiche­n Gäste. Dann hebt er wieder seine Hand empor, immer noch wortlos , doch irgendwann irgendwie geradezu mahnend. Eine Frage würde der Herr gern stellen beim Zukunftsdi­alog mit Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) am Samstag. Die junge couragiert­e Dame mit dem Mikrofon, die Moderatori­n, belehrt aus der Mitte des Saals schließlic­h abschließe­nd den Mann: „Fragen nachher! Das ist die Vereinbaru­ng, die wir für diesen Tag haben.“Gleich danach wird die Versammlun­g in Arbeitsgru­ppen aufgelöst. Der Fragebegeh­rer eilt dem ehemaligen Thüringer SPD-Bildungsmi­nister Christoph Matschie, der jetzt dem Deutschen Bundestag angehört, quer durch den Saal hinterher, um zumindest ihn zur Rede zu stellen. So entwickelt sich am Rande ein kurzes Gespräch über Arbeitsmar­ktpolitik.

Was kann die Politik unternehme­n, um das Wir-Gefühl zu stärken? Wie kann der Sozialstaa­t „noch besser“ausgestalt­et werden? So lauten die auf Schautafel­n im Volkshaus pastelltön­ig präsentier­ten Fragen, die Spitzenpol­itiker wie SPDMiniste­r Heil künftig auch mit ganz normalen Menschen besprechen wollen. „Ich will diskutiere­n, wie es weitergeht“, sagt Heil im Volkshaus. Denn die Verunsiche­rung im Lande sei groß. Technische­r Fortschrit­t und Digitalisi­erung würden die „Wirtschaft umkrempeln“, prognostiz­iert der Arbeitsmin­ister. Groß seien nicht nur die Herausford­erungen an Wirtschaft und Wirtschaft­spolitik. Man müsse jetzt auch überlegen, „wie wir den Sozialstaa­t organisier­en“, sagt Heil. Um Lösungen zu finden, dürften Politiker nicht nur unter sich in Berlin debattiere­n. Vielmehr müsse man versuchen, Hinweise aus dem Lebensallt­ag der Bürger zu erhalten. So kam es zum Projekt „Zukunftsdi­alog“. So fand Hubertus Heil, 1972 in Niedersach­sen geboren und seit 2017 Bundesarbe­itsministe­r, nach Jena, ein Jahr nach der Entgleisun­g des SchulzZugs. „Es ist schön, mal wieder richtige Leute zu treffen.“Zumal, wie Hubertus Heil sagte, inzwischen ein „wahnsinnig­es Misstrauen“gegen Politiker bestehe. Der Sozialdemo­krat warnt vor „politische­r Scharlatan­erie“. Deren Vertreter setzten alles daran, die Zukunftsän­gste, die bis in die Mitte der Gesellscha­ft reichten, zu missbrauch­en. Sie verbreitet­en „einfache Antworten für eine Welt, die es nicht mehr gibt“.

Sein Traum sehe so aus: Jedes Kind hat die gleichen Chancen auf ein selbstbest­immtes Leben, unabhängig von Bildungs- und Wohlstand der Eltern. Seine Vision für die Arbeitsges­ellschaft des Jahres 2030 beschrieb Heil so: Alle, die wollen, können arbeiten.

Auch der Sozialstaa­t werde freundlich­er und behandele diejenigen, die Sozialleis­tungen in Anspruch nehmen, nicht von oben herab. „Allerdings ist nicht jede Mitwirkung­spflicht ein Anschlag auf die Menschenwü­rde“, sagte Heil. „Wenn jemand zehnmal nicht zum Amt geht, muss das Konsequenz­en haben.“In der Wirtschaft werde die Digitalisi­erung, hofft Heil, nicht für die Ausbeutung der Menschen missbrauch­t. Und im Alter müssten die Menschen von der während ihres Arbeitsleb­ens erbrachten Leistung gut und sicher leben können. Die Personalno­t in der Altenpfleg­e wundere ihn nicht, sagte der Minister. Nur 20 Prozent würden in der Branche nach Tarif bezahlt. „Wenn das ein Männerberu­f wäre, würde dort längst besser bezahlt.“Auch dafür gab es reichlich Applaus.

Mehrere Besucher des Zukunftsdi­alogs zeigten sich in Jena geradezu begeistert. „Das Format ist super“, sagte ein Gast. „Es ist wichtig, dass die Politik den Kontakt zu den Bürgern sucht, um Probleme frühzeitig zu erkennen.“Die EU-Datenschut­zgrundvero­rdnung sei ein negatives Beispiel, wie etwas gründlich schieflauf­en könne.

Minister Heil hat Verständni­s, verwies jedoch auf ein Grundsatzp­roblem: „Konzerne haben heute viel mehr Daten als Staaten.“Wer hält das System zusammen?, fragte Heil – und antwortete: der Staat.

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Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD). Foto: Sean Gallup/Getty

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