Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Auf der Suche nach dem Gespräch mit „richtigen Leuten“
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will im Bürgerdialog Lösungen für die Zukunftsprobleme der Arbeitswelt finden und warnt vor politischer Scharlatanerie
Rechts neben dem jungen Mann im Rollstuhl sitzt im Volkshaus zu Jena auf einem der vorgefalteten Pappwürfel ein etwas älterer Herr, nicht so modisch gewandet wie der Student fünf Meter zur Linken, den die Moderatorin gleich zu Beginn gern zu Wort kommen ließ. Der Mann hebt den Arm und wartet. Nach einer Weile senkt er ihn wieder, schweigend, und blickt fragend in die Runde der zahlreichen Gäste. Dann hebt er wieder seine Hand empor, immer noch wortlos , doch irgendwann irgendwie geradezu mahnend. Eine Frage würde der Herr gern stellen beim Zukunftsdialog mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) am Samstag. Die junge couragierte Dame mit dem Mikrofon, die Moderatorin, belehrt aus der Mitte des Saals schließlich abschließend den Mann: „Fragen nachher! Das ist die Vereinbarung, die wir für diesen Tag haben.“Gleich danach wird die Versammlung in Arbeitsgruppen aufgelöst. Der Fragebegehrer eilt dem ehemaligen Thüringer SPD-Bildungsminister Christoph Matschie, der jetzt dem Deutschen Bundestag angehört, quer durch den Saal hinterher, um zumindest ihn zur Rede zu stellen. So entwickelt sich am Rande ein kurzes Gespräch über Arbeitsmarktpolitik.
Was kann die Politik unternehmen, um das Wir-Gefühl zu stärken? Wie kann der Sozialstaat „noch besser“ausgestaltet werden? So lauten die auf Schautafeln im Volkshaus pastelltönig präsentierten Fragen, die Spitzenpolitiker wie SPDMinister Heil künftig auch mit ganz normalen Menschen besprechen wollen. „Ich will diskutieren, wie es weitergeht“, sagt Heil im Volkshaus. Denn die Verunsicherung im Lande sei groß. Technischer Fortschritt und Digitalisierung würden die „Wirtschaft umkrempeln“, prognostiziert der Arbeitsminister. Groß seien nicht nur die Herausforderungen an Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. Man müsse jetzt auch überlegen, „wie wir den Sozialstaat organisieren“, sagt Heil. Um Lösungen zu finden, dürften Politiker nicht nur unter sich in Berlin debattieren. Vielmehr müsse man versuchen, Hinweise aus dem Lebensalltag der Bürger zu erhalten. So kam es zum Projekt „Zukunftsdialog“. So fand Hubertus Heil, 1972 in Niedersachsen geboren und seit 2017 Bundesarbeitsminister, nach Jena, ein Jahr nach der Entgleisung des SchulzZugs. „Es ist schön, mal wieder richtige Leute zu treffen.“Zumal, wie Hubertus Heil sagte, inzwischen ein „wahnsinniges Misstrauen“gegen Politiker bestehe. Der Sozialdemokrat warnt vor „politischer Scharlatanerie“. Deren Vertreter setzten alles daran, die Zukunftsängste, die bis in die Mitte der Gesellschaft reichten, zu missbrauchen. Sie verbreiteten „einfache Antworten für eine Welt, die es nicht mehr gibt“.
Sein Traum sehe so aus: Jedes Kind hat die gleichen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben, unabhängig von Bildungs- und Wohlstand der Eltern. Seine Vision für die Arbeitsgesellschaft des Jahres 2030 beschrieb Heil so: Alle, die wollen, können arbeiten.
Auch der Sozialstaat werde freundlicher und behandele diejenigen, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen, nicht von oben herab. „Allerdings ist nicht jede Mitwirkungspflicht ein Anschlag auf die Menschenwürde“, sagte Heil. „Wenn jemand zehnmal nicht zum Amt geht, muss das Konsequenzen haben.“In der Wirtschaft werde die Digitalisierung, hofft Heil, nicht für die Ausbeutung der Menschen missbraucht. Und im Alter müssten die Menschen von der während ihres Arbeitslebens erbrachten Leistung gut und sicher leben können. Die Personalnot in der Altenpflege wundere ihn nicht, sagte der Minister. Nur 20 Prozent würden in der Branche nach Tarif bezahlt. „Wenn das ein Männerberuf wäre, würde dort längst besser bezahlt.“Auch dafür gab es reichlich Applaus.
Mehrere Besucher des Zukunftsdialogs zeigten sich in Jena geradezu begeistert. „Das Format ist super“, sagte ein Gast. „Es ist wichtig, dass die Politik den Kontakt zu den Bürgern sucht, um Probleme frühzeitig zu erkennen.“Die EU-Datenschutzgrundverordnung sei ein negatives Beispiel, wie etwas gründlich schieflaufen könne.
Minister Heil hat Verständnis, verwies jedoch auf ein Grundsatzproblem: „Konzerne haben heute viel mehr Daten als Staaten.“Wer hält das System zusammen?, fragte Heil – und antwortete: der Staat.