Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Bye-bye Britannia!
Beim Sondergipfel bedauern die Regierungschefs den EU-Austritt der Briten, Merkel spricht von „Trauer“. Aber es herrscht auch Erleichterung
Am Tag der Scheidungsformalitäten haben die EU-Spitzen vor allem eine Botschaft: Sie haben die Trennung nicht gewollt. Der Austritt Großbritanniens aus der EU in fünf Monaten sei eine „Tragödie“, sagt EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker beim Brexit-Sondergipfel in Brüssel. Von „Trauer“spricht Kanzlerin Angela Merkel. „Das ist ein historischer Tag, der sehr zwiespältige Gefühle auslöst“, so Merkel. Es sei tragisch, dass Großbritannien die Europäische Union nach 45 Jahren verlässt. Aber es sei gut, „dass wir eine Einigung auf ein Austrittsabkommen und auf eine politische Erklärung zu den zukünftigen Beziehungen mit Großbritannien haben“. Und Ratspräsident Donald Tusk, bislang um keine Spitze gegen die Briten verlegen, schmachtet plötzlich: „Wir werden Freunde bleiben bis zum Ende der Tage und einen Tag länger.“
In Wahrheit hält sich die Traurigkeit in Grenzen. Eigentlich sind alle nur froh, dass das Gezerre endlich vorbei ist – und dass die EU mit dem Austrittsvertrag gut weggekommen ist. „Eine gewisse Erleichterung“räumt Merkel ein und lobt den Vertrag zufrieden als „diplomatisches Kunststück“. Deshalb geht auch alles ganz schnell: Nach einer Stunde haben die Regierungschefs den Vertrag gebilligt, nach gut zwei Stunden ist das Gipfeltreffen vorüber. Ausgehandelt waren die Dokumente bis aufs letzte Komma vorher. Darauf hatte unter anderem die Kanzlerin bestanden. Nichts störte also das offizielle „Bye-bye Britannia!“. Aber was passiert jetzt eigentlich? Und was ändert sich? Das ist auch nach diesem historischen Gipfel nur zum Teil klar.
Das Zittern geht weiter
Mit der Zustimmung zum Vertrag ist nur eine Zwischenetappe erreicht. Die nächste große Hürde ist die notwendige Zustimmung des britischen Parlaments, das voraussichtlich am 10. Dezember entscheiden soll: Eine Mehrheit für den Austrittsvertrag ist im Unterhaus bislang nicht in Sicht – sowohl BrexitHardliner bei Mays konservativer Tory-Partei als auch die nordirische DUP, auf die sich May im Parlament stützt, haben Widerstand angekündigt. Premierministerin Theresa May warb in einem am Sonntag veröffentlichten „Brief an die Nation“darum, den Brexit-Deal zu unterstützen. Nachverhandlungen, wie sie Kritiker in London fordern, wird es nicht geben. Das machten auch die EU-Regierungschefs klar. „Es wird sicher nicht nachverhandelt. Und es gibt auch keinen weiteren Spielraum“, sagte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz in Brüssel. Für die EU muss noch das EU-Parlament Anfang nächsten Jahres zustimmen – das gilt aber als Formsache.
Der Austrittsvertrag ist Übergangsvertrag
Ein 585-Seiten-Dokument ist der Scheidungsvertrag zwischen Großbritannien und der EU. Er legt fest, dass die Briten auch nach dem Austritt ihre finanziellen Zusagen einhalten (die Schlussrechnung ist noch nicht fertig – sie wird sich auf etwa 45 Milliarden Euro belaufen). Er enthält Regelungen, wie der brüchige Frieden zwischen EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland gesichert werden kann. Grenzkontrollen soll es dort nicht geben. Und: Der Austrittsvertrag legt eine Übergangsfrist fest, in der sich in der Praxis erst mal nichts ändert – mindestens bis Ende 2020, höchstens bis Ende 2022 hält sich Großbritannien auch als Nichtmitglied an alle EU-Regeln, zahlt Milliarden in den EU-Haushalt ein. Dafür hat das Land weiter Zugang zum Binnenmarkt. Währenddessen wollen London und Brüssel die Verträge über die künftigen Beziehungen aushandeln, für die jetzt die Zeit zu knapp war. Vor allem geht es um ein Handelsabkommen.
Reisen weiter problemlos möglich
Praktische Folgen der Lösung: Für Reisende und für die Wirtschaft ändert sich erst mal nichts. Grenzkontrollen hat Großbritannien schon jetzt, das Land war nie vollwertiges Mitglied des Schengen-Raumes. Aber Zollkontrollen, Einfuhrund Reisebeschränkungen gibt es vorerst nicht. Auch nach der Übergangsphase (nach 2022) sollen Reisen problemlos möglich sein: Für Trips nach Großbritannien werden EU-Bürger dauerhaft kein Visum benötigen. Umgekehrt werden auch die Briten weiter ohne Visum in die Union reisen dürfen. So ist es in der ergänzenden, unverbindlichen „Politischen Erklärung“festgelegt. Doch ist die Visa-Befreiung nur für „kurze Besuche“zugesichert – was das genau heißt, ist unklar. Für Studenten, Wissenschaftler, Jugendaustausche sollen erleichterte Einreiseund Aufenthaltsbedingungen vereinbart werden.
Das Thema Rechtssicherheit
Der Austrittsvertrag gibt allen Bürgern, die schon jetzt in Großbritannien leben, Garantien: Sie behalten lebenslang ihr Bleibeund Arbeitsrecht – einschließlich eines möglichen Anspruchs auf Sozialleistungen. Umgekehrt haben Briten, die jetzt in anderen EU-Ländern leben, dieselben Rechte. Den Anspruch erwirbt, wer vor dem Ende der Übergangsphase umgezogen ist – also auch nach dem Scheidungstermin im März 2019.
Die spätere Partnerschaft
Bislang gibt es nur vage Pläne für die künftigen Beziehungen. Der Sondergipfel beschloss zum Brexit-Deal eine unverbindliche Erklärung, in der rund 70 Mal von Zusammenarbeit und enger Partnerschaft die Rede ist – auf vielen Feldern: von Verteidigung und Geheimdiensten über Justiz und Außenpolitik bis hin zu Forschung und Studienaustausch. EU-Chefunterhändler Michel Barnier sagt: „Wir werden Verbündete, Partner und Freunde bleiben.“Aber das ist bisher nur Theorie. Dreh- und Angelpunkt sind die wirtschaftlichen Beziehungen: Als Ziel haben Brüssel und London eine Freihandelszone ohne Zölle und Quoten verabredet, mit fairen Wettbewerbsbedingungen und enger Abstimmung bei Standards. Markenrechte sollen erhalten bleiben, auch die geschützten Ursprungsbezeichnungen.
Doch viele Details sind unklar. Experten erwarten, dass Großbritannien auch dauerhaft nicht frei wäre in der Steuer-, Subventions- oder Umweltpolitik oder bei der Festlegung von Arbeits- und Sozialstandards. Entsprechend empört geben sich die Brexit-Hardliner. Erschwerend kommt für Großbritannien eine Festlegung im verbindlichen Austrittsvertrag hinzu: Wenn keine andere Lösung für die Frage gefunden wird, wie sich dauerhaft Kontrollen an der inneririschen Grenze vermeiden lassen, bleibt ganz Großbritannien als Notfalllösung in einer Zollunion mit der EU. Damit wäre es den Briten zum Beispiel unmöglich, im Handel mit Drittstaaten die Zölle der EU zu unterbieten.