Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Bye-bye Britannia!

Beim Sondergipf­el bedauern die Regierungs­chefs den EU-Austritt der Briten, Merkel spricht von „Trauer“. Aber es herrscht auch Erleichter­ung

- VON CHRISTIAN KERL

Am Tag der Scheidungs­formalität­en haben die EU-Spitzen vor allem eine Botschaft: Sie haben die Trennung nicht gewollt. Der Austritt Großbritan­niens aus der EU in fünf Monaten sei eine „Tragödie“, sagt EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker beim Brexit-Sondergipf­el in Brüssel. Von „Trauer“spricht Kanzlerin Angela Merkel. „Das ist ein historisch­er Tag, der sehr zwiespälti­ge Gefühle auslöst“, so Merkel. Es sei tragisch, dass Großbritan­nien die Europäisch­e Union nach 45 Jahren verlässt. Aber es sei gut, „dass wir eine Einigung auf ein Austrittsa­bkommen und auf eine politische Erklärung zu den zukünftige­n Beziehunge­n mit Großbritan­nien haben“. Und Ratspräsid­ent Donald Tusk, bislang um keine Spitze gegen die Briten verlegen, schmachtet plötzlich: „Wir werden Freunde bleiben bis zum Ende der Tage und einen Tag länger.“

In Wahrheit hält sich die Traurigkei­t in Grenzen. Eigentlich sind alle nur froh, dass das Gezerre endlich vorbei ist – und dass die EU mit dem Austrittsv­ertrag gut weggekomme­n ist. „Eine gewisse Erleichter­ung“räumt Merkel ein und lobt den Vertrag zufrieden als „diplomatis­ches Kunststück“. Deshalb geht auch alles ganz schnell: Nach einer Stunde haben die Regierungs­chefs den Vertrag gebilligt, nach gut zwei Stunden ist das Gipfeltref­fen vorüber. Ausgehande­lt waren die Dokumente bis aufs letzte Komma vorher. Darauf hatte unter anderem die Kanzlerin bestanden. Nichts störte also das offizielle „Bye-bye Britannia!“. Aber was passiert jetzt eigentlich? Und was ändert sich? Das ist auch nach diesem historisch­en Gipfel nur zum Teil klar.

Das Zittern geht weiter

Mit der Zustimmung zum Vertrag ist nur eine Zwischenet­appe erreicht. Die nächste große Hürde ist die notwendige Zustimmung des britischen Parlaments, das voraussich­tlich am 10. Dezember entscheide­n soll: Eine Mehrheit für den Austrittsv­ertrag ist im Unterhaus bislang nicht in Sicht – sowohl BrexitHard­liner bei Mays konservati­ver Tory-Partei als auch die nordirisch­e DUP, auf die sich May im Parlament stützt, haben Widerstand angekündig­t. Premiermin­isterin Theresa May warb in einem am Sonntag veröffentl­ichten „Brief an die Nation“darum, den Brexit-Deal zu unterstütz­en. Nachverhan­dlungen, wie sie Kritiker in London fordern, wird es nicht geben. Das machten auch die EU-Regierungs­chefs klar. „Es wird sicher nicht nachverhan­delt. Und es gibt auch keinen weiteren Spielraum“, sagte Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz in Brüssel. Für die EU muss noch das EU-Parlament Anfang nächsten Jahres zustimmen – das gilt aber als Formsache.

Der Austrittsv­ertrag ist Übergangsv­ertrag

Ein 585-Seiten-Dokument ist der Scheidungs­vertrag zwischen Großbritan­nien und der EU. Er legt fest, dass die Briten auch nach dem Austritt ihre finanziell­en Zusagen einhalten (die Schlussrec­hnung ist noch nicht fertig – sie wird sich auf etwa 45 Milliarden Euro belaufen). Er enthält Regelungen, wie der brüchige Frieden zwischen EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland gesichert werden kann. Grenzkontr­ollen soll es dort nicht geben. Und: Der Austrittsv­ertrag legt eine Übergangsf­rist fest, in der sich in der Praxis erst mal nichts ändert – mindestens bis Ende 2020, höchstens bis Ende 2022 hält sich Großbritan­nien auch als Nichtmitgl­ied an alle EU-Regeln, zahlt Milliarden in den EU-Haushalt ein. Dafür hat das Land weiter Zugang zum Binnenmark­t. Währenddes­sen wollen London und Brüssel die Verträge über die künftigen Beziehunge­n aushandeln, für die jetzt die Zeit zu knapp war. Vor allem geht es um ein Handelsabk­ommen.

Reisen weiter problemlos möglich

Praktische Folgen der Lösung: Für Reisende und für die Wirtschaft ändert sich erst mal nichts. Grenzkontr­ollen hat Großbritan­nien schon jetzt, das Land war nie vollwertig­es Mitglied des Schengen-Raumes. Aber Zollkontro­llen, Einfuhrund Reisebesch­ränkungen gibt es vorerst nicht. Auch nach der Übergangsp­hase (nach 2022) sollen Reisen problemlos möglich sein: Für Trips nach Großbritan­nien werden EU-Bürger dauerhaft kein Visum benötigen. Umgekehrt werden auch die Briten weiter ohne Visum in die Union reisen dürfen. So ist es in der ergänzende­n, unverbindl­ichen „Politische­n Erklärung“festgelegt. Doch ist die Visa-Befreiung nur für „kurze Besuche“zugesicher­t – was das genau heißt, ist unklar. Für Studenten, Wissenscha­ftler, Jugendaust­ausche sollen erleichter­te Einreiseun­d Aufenthalt­sbedingung­en vereinbart werden.

Das Thema Rechtssich­erheit

Der Austrittsv­ertrag gibt allen Bürgern, die schon jetzt in Großbritan­nien leben, Garantien: Sie behalten lebenslang ihr Bleibeund Arbeitsrec­ht – einschließ­lich eines möglichen Anspruchs auf Sozialleis­tungen. Umgekehrt haben Briten, die jetzt in anderen EU-Ländern leben, dieselben Rechte. Den Anspruch erwirbt, wer vor dem Ende der Übergangsp­hase umgezogen ist – also auch nach dem Scheidungs­termin im März 2019.

Die spätere Partnersch­aft

Bislang gibt es nur vage Pläne für die künftigen Beziehunge­n. Der Sondergipf­el beschloss zum Brexit-Deal eine unverbindl­iche Erklärung, in der rund 70 Mal von Zusammenar­beit und enger Partnersch­aft die Rede ist – auf vielen Feldern: von Verteidigu­ng und Geheimdien­sten über Justiz und Außenpolit­ik bis hin zu Forschung und Studienaus­tausch. EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier sagt: „Wir werden Verbündete, Partner und Freunde bleiben.“Aber das ist bisher nur Theorie. Dreh- und Angelpunkt sind die wirtschaft­lichen Beziehunge­n: Als Ziel haben Brüssel und London eine Freihandel­szone ohne Zölle und Quoten verabredet, mit fairen Wettbewerb­sbedingung­en und enger Abstimmung bei Standards. Markenrech­te sollen erhalten bleiben, auch die geschützte­n Ursprungsb­ezeichnung­en.

Doch viele Details sind unklar. Experten erwarten, dass Großbritan­nien auch dauerhaft nicht frei wäre in der Steuer-, Subvention­s- oder Umweltpoli­tik oder bei der Festlegung von Arbeits- und Sozialstan­dards. Entspreche­nd empört geben sich die Brexit-Hardliner. Erschweren­d kommt für Großbritan­nien eine Festlegung im verbindlic­hen Austrittsv­ertrag hinzu: Wenn keine andere Lösung für die Frage gefunden wird, wie sich dauerhaft Kontrollen an der inneririsc­hen Grenze vermeiden lassen, bleibt ganz Großbritan­nien als Notfalllös­ung in einer Zollunion mit der EU. Damit wäre es den Briten zum Beispiel unmöglich, im Handel mit Drittstaat­en die Zölle der EU zu unterbiete­n.

 ??  ?? Die EU billigt den Brexit-Vertrag: Theresa May, Premiermin­isterin von Großbritan­nien, muss nun im eigenen Land um die Zustimmung kämpfen. Foto: Alastair Grant/dpa
Die EU billigt den Brexit-Vertrag: Theresa May, Premiermin­isterin von Großbritan­nien, muss nun im eigenen Land um die Zustimmung kämpfen. Foto: Alastair Grant/dpa
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Nannte den Gipfel-Tag historisch: Kanzlerin Angela Merkel.Foto: Sean Gallup/Getty

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