Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Verirrt im Betonpfeilerwald
Humperdincks „Hänsel und Gretel“wird wieder in Weimar gefeiert – wie bei der Uraufführung vor 125 Jahren
Als Kapellmeister hat Richard Strauss mit erst 29 Jahren an der Hofoper zu Weimar Engelbert Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“uraufgeführt. Fast genau 125 Jahre ist dies her, und die Dirigierpartitur von damals wird nun inklusive seiner handschriftlichen Einträge in einer kleinen Ausstellung des Landesmusikarchivs im Foyer des Deutschen Nationaltheaters gezeigt. Ausgiebig hat, wie es heißt, Strauss‘ Amtsnachfolger Dominik Beykirch (28) das Autograph studiert; was es ihm für die Jubiläums-Premiere genutzt hat, lässt sich nur ahnen.
Es war einmal ein kluger und handwerklich sehr erfahrener Regisseur und Bühnenbildner, Christian Sedelmayer; der hat ganz wunderbar anrührend den zeitlosen Märchenstoff der Brüder Grimm ins Hier und Jetzt übertragen. Wenn sich zum gediegenen Vorspiel der Portalschleier mit lustigem Scherenschnitt hebt, bleibt dem Publikum erstmal das Herz stehen: Tristesse dominiert, denn unter den rissigen Sichtbetonpfeilern einer Autobahnbrücke haust das Prekariat. Vielleicht eine RomaFamilie. Rechts hängt Wäsche auf der provisorischen Leine, vier Autoreifen und ein Brett bilden den Tisch. Die Kinder lassen sich von der Armut gar nicht verdrießen und zeichnen ihre Weihnachtswünsche mit Kreide auf den grauen Beton. Nur beißt sie der Hunger. Aber dann schlüpft die Grete in ein knallgelbes Tutu, und – „Brüderchen, komm tanz mit mir!“– schon dreht sich der Reigen. Die Eltern hingegen haben einen wacheren Sinn für die Not: Das lehrt uns die eindringliche Klage der Mutter Gertrud, vorzüglich gesungen von Camila Ribero-Souza, und selbst als Papa Peter, der elegant intonierende Uwe Schenker-Primus, mit seinen „Waren“– dem handelsüblichen Convenient-Food-Sortiment – samt Sackkarre erscheint, verheißt das nur kurzfristig Linderung. Den Beiden ist klar: Um vier Mäuler zu stopfen, langt das Einkommen nicht.
So erfüllt ihnen Sedelmayer den insgeheimen, grausigen Wunsch, dass die Kinder sich bei nächtlichem Novembernebel im Betondschungel der Vorstadtbrache verlaufen. Müde bettet sich Hänsel; Gretel deckt ihn mit ihrer grünen Sportjacke zu. Ein herrlich buntes Sandmännchen (SuJin Bae) stiftet den Abendsegen und Traumzauber und lässt vom finsteren Schnürboden herab einen richtigen Wald wachsen. Dann ist Pause, und danach weiß man nicht, ob man noch träumt oder ob der Zauber wirkliche Wunder bewirkt. Natürlich kommt dann die Hexe (Alexander Günther) mit ihrem Zuckerguss-Kirmeswagen samt Katze (Roger Jahnke) vorbei, um die Kinder ins Hexenhaus zu verlocken. Sie ist ein komischer, schrulliger Kauz und trägt das Katzenfutter – ein paar tote Ratten! – am Gürtel (Kostüme: Caroline Reuß). Ganz allmählich entpuppt sich ihre pädophile Boshaftigkeit; sie reitet sogar auf dem Besen durch die Lüfte. Sedelmayer erzählt all das kindgerecht, und sogar die Erwachsenen verstehen es.
Aber natürlich endet die Hexe im Ofen, die Katze wird gezähmt und der Bann all der früheren Opfer, lauter Kinder, gelöst. Gretel (Emma Moore), die etwas zögerlich in ihre Partie gefunden, sich aber famos mit ihrer schönen, zu behutsamer Reifung anempfohlenen Stimme gesteigert hat, trägt nun ein T-Shirt mit der Aufschrift „erwachsen“. Aha, coming-of-age nennt man das. Und weil‘s ohne Botschaft nicht geht, tragen alle übrigen Kinder ebenso bunte Hemden: „Frei zu tauchen, denken, träumen, reisen, daddeln, singen, spielen und – leben“, steht drauf gedruckt. Hänsel, gesungen von der aus einem guten Ensemble leicht herausragenden Sayaka Shigeshima, hat „Großer Held“auf der Brust stehen.
Im Ernst, Leute: So ein T-Shirt braucht Dominik Beykirch jetzt auch. Der Kerl hat das „Kinderstubenweihfestspiel“so plastisch und spannend gestaltet, als wär‘s ein großes Drama von Wagner. Was es irgendwie ja auch ist. In einer röschen, präzise kalkulierten Tempostruktur darf die Staatskapelle mit ihrem stupenden Klangsinn polyphon leuchten. Die Hornisten, Klarinettisten, ach: sie alle sind Helden. Und triumphal bricht der Schlussapplaus los. Wie damals, vor 125 Jahren. Wie im Märchen.