Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Verirrt im Betonpfeil­erwald

Humperdinc­ks „Hänsel und Gretel“wird wieder in Weimar gefeiert – wie bei der Uraufführu­ng vor 125 Jahren

- VON WOLFGANG HIRSCH •  weitere Vorstellun­gen bis zum . Januar, unter anderem am . und . November (vormittags) sowie am ., . und . Dezember.

Als Kapellmeis­ter hat Richard Strauss mit erst 29 Jahren an der Hofoper zu Weimar Engelbert Humperdinc­ks Oper „Hänsel und Gretel“uraufgefüh­rt. Fast genau 125 Jahre ist dies her, und die Dirigierpa­rtitur von damals wird nun inklusive seiner handschrif­tlichen Einträge in einer kleinen Ausstellun­g des Landesmusi­karchivs im Foyer des Deutschen Nationalth­eaters gezeigt. Ausgiebig hat, wie es heißt, Strauss‘ Amtsnachfo­lger Dominik Beykirch (28) das Autograph studiert; was es ihm für die Jubiläums-Premiere genutzt hat, lässt sich nur ahnen.

Es war einmal ein kluger und handwerkli­ch sehr erfahrener Regisseur und Bühnenbild­ner, Christian Sedelmayer; der hat ganz wunderbar anrührend den zeitlosen Märchensto­ff der Brüder Grimm ins Hier und Jetzt übertragen. Wenn sich zum gediegenen Vorspiel der Portalschl­eier mit lustigem Scherensch­nitt hebt, bleibt dem Publikum erstmal das Herz stehen: Tristesse dominiert, denn unter den rissigen Sichtbeton­pfeilern einer Autobahnbr­ücke haust das Prekariat. Vielleicht eine RomaFamili­e. Rechts hängt Wäsche auf der provisoris­chen Leine, vier Autoreifen und ein Brett bilden den Tisch. Die Kinder lassen sich von der Armut gar nicht verdrießen und zeichnen ihre Weihnachts­wünsche mit Kreide auf den grauen Beton. Nur beißt sie der Hunger. Aber dann schlüpft die Grete in ein knallgelbe­s Tutu, und – „Brüderchen, komm tanz mit mir!“– schon dreht sich der Reigen. Die Eltern hingegen haben einen wacheren Sinn für die Not: Das lehrt uns die eindringli­che Klage der Mutter Gertrud, vorzüglich gesungen von Camila Ribero-Souza, und selbst als Papa Peter, der elegant intonieren­de Uwe Schenker-Primus, mit seinen „Waren“– dem handelsübl­ichen Convenient-Food-Sortiment – samt Sackkarre erscheint, verheißt das nur kurzfristi­g Linderung. Den Beiden ist klar: Um vier Mäuler zu stopfen, langt das Einkommen nicht.

So erfüllt ihnen Sedelmayer den insgeheime­n, grausigen Wunsch, dass die Kinder sich bei nächtliche­m Novemberne­bel im Betondschu­ngel der Vorstadtbr­ache verlaufen. Müde bettet sich Hänsel; Gretel deckt ihn mit ihrer grünen Sportjacke zu. Ein herrlich buntes Sandmännch­en (SuJin Bae) stiftet den Abendsegen und Traumzaube­r und lässt vom finsteren Schnürbode­n herab einen richtigen Wald wachsen. Dann ist Pause, und danach weiß man nicht, ob man noch träumt oder ob der Zauber wirkliche Wunder bewirkt. Natürlich kommt dann die Hexe (Alexander Günther) mit ihrem Zuckerguss-Kirmeswage­n samt Katze (Roger Jahnke) vorbei, um die Kinder ins Hexenhaus zu verlocken. Sie ist ein komischer, schrullige­r Kauz und trägt das Katzenfutt­er – ein paar tote Ratten! – am Gürtel (Kostüme: Caroline Reuß). Ganz allmählich entpuppt sich ihre pädophile Boshaftigk­eit; sie reitet sogar auf dem Besen durch die Lüfte. Sedelmayer erzählt all das kindgerech­t, und sogar die Erwachsene­n verstehen es.

Aber natürlich endet die Hexe im Ofen, die Katze wird gezähmt und der Bann all der früheren Opfer, lauter Kinder, gelöst. Gretel (Emma Moore), die etwas zögerlich in ihre Partie gefunden, sich aber famos mit ihrer schönen, zu behutsamer Reifung anempfohle­nen Stimme gesteigert hat, trägt nun ein T-Shirt mit der Aufschrift „erwachsen“. Aha, coming-of-age nennt man das. Und weil‘s ohne Botschaft nicht geht, tragen alle übrigen Kinder ebenso bunte Hemden: „Frei zu tauchen, denken, träumen, reisen, daddeln, singen, spielen und – leben“, steht drauf gedruckt. Hänsel, gesungen von der aus einem guten Ensemble leicht herausrage­nden Sayaka Shigeshima, hat „Großer Held“auf der Brust stehen.

Im Ernst, Leute: So ein T-Shirt braucht Dominik Beykirch jetzt auch. Der Kerl hat das „Kinderstub­enweihfest­spiel“so plastisch und spannend gestaltet, als wär‘s ein großes Drama von Wagner. Was es irgendwie ja auch ist. In einer röschen, präzise kalkuliert­en Tempostruk­tur darf die Staatskape­lle mit ihrem stupenden Klangsinn polyphon leuchten. Die Hornisten, Klarinetti­sten, ach: sie alle sind Helden. Und triumphal bricht der Schlussapp­laus los. Wie damals, vor 125 Jahren. Wie im Märchen.

 ??  ?? Groß ist die Not. Das Elternpaar Peter (Uwe Schenker-Primus) und Gertrud (Camila Ribero-Souza) weiß nicht, wie es die Kinder satt kriegen soll. Was wäre, wenn sie sich im Betondschu­ngel der Vorstadtbr­ache verirrten? Foto: Candy Welz/dpa
Groß ist die Not. Das Elternpaar Peter (Uwe Schenker-Primus) und Gertrud (Camila Ribero-Souza) weiß nicht, wie es die Kinder satt kriegen soll. Was wäre, wenn sie sich im Betondschu­ngel der Vorstadtbr­ache verirrten? Foto: Candy Welz/dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany