Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Stadtgeschichte kam endlich zum Zuge
Gothaer Straßenbekanntschaften (24): Straßen in der Wohngruppe V des Neubaugebietes Gotha-West 1980 nach alten Flurbezeichnungen benannt
Wie in der letzten Folge berichtet, legte eine beim Rat der Stadt gebildete „Untergruppe Straßenumbenennung“am 9. Januar 1975 eine Reihe von „Empfehlungen über vorzunehmende Straßenumbenennungen“vor, von denen jedoch Ende 1978 lediglich die Umbenennung der Liebetrau- in Fritz-HeilmannStraße realisiert wurde. Erwähnt wurde bereits, dass die Lothringer und Vogesenstraße in Willy-Papst- und WillyZimmermann-Straße umbenannt und aus der Seebach- die Clara-Zetkin-Straße werden sollte. Offensichtlich hatte man es vor allem auf die Vertreter des Adels abgesehen.
Deshalb sollte aus der Schelihadie Käthe-Kollwitz-Straße werden, zumal sich dort die gleichnamige Berufsschule – die vormalige und jetzige Löfflerschule – befand. „Der Grundbesitzer, Freiherr von Leesen, hat für uns keine ehrenvolle Bedeutung mehr“, hieß es in der Begründung für die Umbenennung der Leesen- in Betty-ScherzStraße. Diese gehörte zusammen mit ihrem Mann Ernst dem revolutionären linken Flügel der USPD um Otto Geithner an.
Als weiteren Adligen sollte es Sylvius Freiherrn von Frankenberg (1728-1815) treffen. Die Frankenbergstraße sollte zukünftig den Namen des Kommunisten, Antifaschisten und Mitbegründers der KPD in Gotha, Hugo Meister (1901-1956), tragen. Aus der Johannes- sollte die August-Creutzburg-Straße werden, die jedoch 1977 im Neubaugebiet Gotha-West entstand. Auch die nach einer Gothaer Herzogin benannte Mariengasse war der Untergruppe ein Dorn im Auge. Als Alternative wurde die unlängst verstorbene Ida Heller (1890-1973) genannt. „Sie hat sich insbesondere verdient gemacht im roten Frauenund Mädchenbund. Im Gothaer Landtag hat sie sich bereits 1919 konsequent für die Rechte der Frauen eingesetzt“, hieß es in der Begründung.
Schließlich nutzte es auch dem Fabrikbesitzer Oskar Blödner (1853-1916) wenig, dass er zeitlebens karitativ eingestellt war und seiner Heimatstadt testamentarisch 1,2 Millionen Mark für gemeinnützige Zwecke vermacht hatte. Die seit
1921 nach dem „kapitalistischen Ausbeuter“benannte Oskar-Blödner-Straße sollte den Namen des Partei- und Gewerkschaftsfunktionärs sowie Gothaer Landrats Hugo Gräf
(1892-1958) bekommen. Die diesbezügliche Akte im Stadtarchiv enthält auch noch „einige Bemerkungen zu Straßennamen in Gotha“vom 14. Februar 1975. Deren Verfasser zog neben Otto Liebetrau („Reaktionär übelster Sorte und geschworener Feind der Arbeiterbewegung“) und Oskar Blödner („Seifenfabrikant – Kommentar überflüssig“) auch über die „sogenannten Fabrikbesitzer“Briegleb & Hansen her. „Die Fabrikherren waren brutale Ausbeuter und skrupellose Scharfmacher“, lautete das pauschalisierende vernichtende Urteil.
Die ebenfalls kritisierte August-Blödner-Straße existierte bereits seit vier Jahren nicht mehr (siehe Folge 22). An den Pranger wurden auch die Gustav-Freytag-Straße und sogar der Kirchenrat-Müller- und Landgraf-Balthasar-Weg gestellt, denn diese hätten „nicht das mindeste zu tun mit humanistischen Traditionen“.
Letztendlich sollte „in Abstimmung mit der Kreisleitung der SED und dem Rat des Kreises Gotha (...) eine langfristige Konzeption zur Umbenennung längst überfälliger Straßennamen in unserer Stadt“ausgearbeitet werden, die sich über den Zeitraum 1976 bis 1980 erstrecken sollte. Eine erste Beratung der Arbeitsgruppe fand am 5. November 1975 statt.
Fabrikherren als brutale Ausbeuter angeprangert
Helmut Roob regte in der TLZ eine Weberstraße an
Dass es damals auch konstruktive Vorschläge zu Straßenbenennungen gegeben hat, beweist der TLZ-Artikel von Helmut Roob vom 17. Juni 1976 anlässlich des
150. Todestages des Komponisten Carl Maria von Weber
(1786-1826). Der letzte Absatz stand dabei unter der Überschrift „Eine Weberstraße?“.
Roob forderte: „Es gibt in Gotha eine Spohrstraße und eine Rombergstraße, nach Carl Maria von Weber als dritten des damals in Gotha leuchtenden musikalischen Dreigestirns sollte man daher auch eine Straße benennen.“Als Standort schlug er die neue Wohngruppe im Neubaugebiet Gotha-West vor, „für deren Straßen noch nach Namen gesucht wird.“Das Ergebnis ist bekannt.
Am 22. August 1979 beschloss der Rat der Stadt Gotha „in Anlehnung an die bereits bestehenden Straßennamen in diesem Wohngebiet“die Umbenennung eines Abzweigs der Gabelsbergerin Joseph-MeyerStraße. Die TLZ berichtete darüber am 29. August unter der Überschrift „Neuer Name im Verzeichnis“. Der 1796 in der jetzigen Querstraße 5 geborene „Begründer des bekannten Bibliographischen Instituts in Leipzig“habe zu den fortschrittlichen Demokraten der Revolution 1848 gehört und mit billigen Taschenausgaben die deutsche Literatur breiten Kreisen der Bevölkerung zugänglich gemacht.
Schließlich erhielten am 30. April 1980 die vier in der Wohngruppe V des Neubaugebietes Gotha-West neu entstandenen Straßen einen Namen. Diesmal standen ausnahmsweise keine Antifaschisten, Kommunisten oder Kosmonauten zur Diskussion. Die „neuen Straßen mit alten Namen“waren vielmehr „eine heimatgeschichtliche Erinnerung an die Frühzeit und das Mittelalter der heutigen Kreisstadt“, denn die bisherigen Flurstückbezeichnungen fungierten als Namensgeber. Neben der verlängerten Eschleber Straße entstanden damals die Straßenzüge Am Schafrasen, Am Wiegwasser, An der Goth und An der Wolfgangwiese. Während die SED-Zeitung „Das Volk“lediglich eine „amtliche Bekanntmachung über die Neubenennung von Straßen“veröffentlichte, lobte Lorenz Kreibe in der TLZ die neuen Straßennamen als „Referenzen an Frühzeit und Mittelalter“. Die 775 erstmals urkundlich erwähnte „villa gotaha“hatte schließlich dort ihren Ursprung gehabt. Bei der Goth könnte es sich um das Wiegwasser gehandelt haben. Auf der Wolfgangswiese stand wahrscheinlich Gothas älteste Kirche – die Wolfgangskapelle.