Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Am Tag des Mauerfalls befördert
Michael Brychcy ist seit dem 9. November 1989 Bürgermeister von Waltershausen. Eine Rede vor wütenden Menschen gibt den Ausschlag
Waltershausen. Michael Brychcy ist einer der dienstältesten Bürgermeister bundesweit, im Osten Deutschlands auf jeden Fall. Seit 30 Jahren führt er die Geschicke im Waltershäuser Rathaus. Bemerkenswert: Am Tag der Grenzöffnung, am 9. November 1989, kam er ins Amt. Wegen des Parteienproporzes – im Arbeiter- und Bauern-Staat genannt Nationale Front mit SED und Blockparteien – war damals festgeschrieben, dass in Waltershausen die Stelle des zweiten stellvertretenden Bürgermeisters mit einem Vertreter der Ost-CDU besetzt werden musste. Bürgermeister und sein erster Stellvertreter besaßen das SED-Parteibuch. Als Gudrun Günther 1986 den CDU-Stuhl räumen musste, wurde ein Nachfolger gesucht. Brychcy arbeitete zu jener Zeit als Ingenieur für Elast-Technologie im Gummiwerk Waltershausen, drei Schichten. „Es hat unheimlich Spaß gemacht.“Er habe dort gutes Geld verdient. Mit Doppel- und Wochenendschichten bis zu 2400 Ostmark monatlich – netto. Für DDRVerhältnisse ein Batzen Geld.
Heinz Basin, der CDU-Kreisgeschäftsführer, fragte Brychcy (katholisch aufgewachsen und CDU-Mitglied), im Sommer 1987, ob er auf den Stellvertreterposten im Rathaus wechseln wolle? Zuerst habe er skeptisch reagiert. Mit Aussicht auf eine Neubauwohnung habe er dann aber zugesagt.
Ende 1987 ging Brychcy vom Gummiwerk ins Rathaus und übernahm die Abteilungen Landwirtschaft, Handel und Versorgung. „Ich hatte von nichts eine Ahnung.“Doch die knapp zwei Lehrjahre bis zur Wende möchte er nicht missen.
Vieles sei in den Prozessabläufen der Verwaltung ähnlich gewesen wie heute.
Dann kam die politische Wende. SED-Bürgermeister Heinz Becker erkrankte im Sommer 1989 schwer. Die erste Stellvertreterin, Karin Erdmann, übernahm die Leitung. Als die Demonstrationen im Land immer größer wurden, gingen auch in Waltershausen die Menschen auf die Straße. Erdmann forderte Brychcy auf, Kontakt zu den Kirchen aufzunehmen: „Du kennst die doch.“
Bei einer Demo Anfang November standen etwa 2000 Menschen im Regen auf dem Marktplatz und ließen ihren Frust ab. „Es war eine unheimliche Stimmung“, erinnert sich Brychcy gut. Er habe vor der Menge gestanden und gesagt: „Ich heiße Michael Brychcy und bin verantwortlich für Handel und Versorgung.“
Ein Riesenpfeifkonzert. „Ich habe sie auspfeifen lassen und gesagt: Wenn ich pfeifen könnte, würde ich mitpfeifen. Aber wenn ich nichts habe zum Verteilen, was verteilt werden müsste, soll mir das einer nachmachen!“Noch heute zolle ihm mancher von damals für diese Antwort Respekt. Trotz der aggressiven Atmosphäre an jenem Abend sei die Lage aber nicht eskaliert.
In Waltershausen bildete sich wie andernorts ein Runder Tisch. Der tagte am 9. November 1989. In dieser Runde mit etwa 30 Vertretern sei vorgeschlagen worden, dass Brychcy die Rathausgeschäfte amtierend führen solle. „Ich bin nach Hause und war Bürgermeister.“Bei der ersten demokratischen Wahl und den nachfolgenden Wahlen wurde er mit deutlicher Mehrheit im Amt bestätigt.
Mit der Wende ging es erst einmal bergab. 1990 fielen allein in Waltershausen rund 7000 Arbeitsplätze weg. Die Puppenindustrie mit 1900 Beschäftigten brach vollkommen weg. Ebenso Thüringer Schmuck. Gummiwerk und Multicar fuhren ihre Produktion massiv zurück. „Die Arbeitslosenquote lag bei über 50 Prozent. Die Stadt war dunkelgrau und kaputt“, beschreibt Brychcy das Bild von damals. Als vor wenigen Wochen ein Team des Hessischen Fernsehens bei Dreharbeiten in Waltershausen ihn fragte, ob er sich als Gewinner oder Verlierer der Wende fühle, habe er klipp und
„Ich bin kein bisschen amtsmüde.“
Michael Brychcy
klar geantwortet: „Eindeutig Gewinner.“Er habe den HRLeuten empfohlen, sich einen Film mit Aufnahmen der Stadt von 1990/91 anzusehen.
In den zurückliegenden drei Jahrzehnten hat sich Waltershausen grundlegend gewandelt. Die Innenstadt ist ein Schmuckstück geworden. Es gibt neue Industrie. Waltershausen habe mit den gleichen Problemen wie eine Kleinstadt in Hessen zu kämpfen, zum Beispiel mit Ladenleerstand.
Auch nach 30 Jahren im Amt fühlt sich Brychcy „kein bisschen“amtsmüde. Es gebe in seiner Heimatstadt noch so viele Hausforderungen: der Ausbau der Ruhlaer Straße, im Emsetal, die Umgehungsstraße für Wahlwinkel. Als Rentner wolle er aber nicht mehr auf dem Bürgermeisterstuhl sitzen. Aber bis dahin bleiben ihm ja noch fünf Jahre zum Schalten und Walten.