Thüringische Landeszeitung (Gotha)
Corona-Krise 200.000 Infektionen – in 24 Wochen
Ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie zeigen sich Experten erleichtert über den Verlauf in Deutschland
Sie rückt näher und wird wahrscheinlich schon am Wochenende erreicht: Die 200.000-Marke von Menschen, die in Deutschland positiv auf Covid-19 getestet wurden. Wer den Ablauf der Pandemie nachzeichnet, steht vor der Silhouette eines Berges: Eine Steilwand, die am 6. April den Gipfel erreicht – 72.865 aktive Fälle sind es an dem Tag – und danach abfällt. Momentan pendelt sich diese Zahl bei 6000 bis 7000 ein. Der R-Wert – der angibt, wie viel Personen durch einen Infizierten angesteckt werden – lag am Freitag bei 0,8.
Die Gesamtzahl der Infizierten ist eine schwierige Größe – nicht jeder Staat testet gleich viel. Wer Deutschland einordnen will, vergleicht besser zwei andere Zahlen: Die der aktiven Fälle sowie der Todesopfer pro eine Million Einwohner.
In Italien ist die Zahl der aktiven Fälle laut der internationalen Datenbank Worldometer doppelt so hoch, in Belgien sechsmal, in Frankreich zehnmal höher als in Deutschland. Auf eine Million Einwohner kommen in Deutschland 109 Corona-Tote. Frankreich: 459. Schweden: 545. Italien: 578. Spanien: 607. Großbritannien: 657 Holland: 358.
In der näheren Nachba schaft schneiden wenige besser ab. Österreich gehört dazu, Dänemark und Norwegen.
„Wir sind sehr gut durchgekommen“, sagt der SPD-Politiker Karl Lauterbach. Deutsch land habe eine „unterp portionale Sterblichkeit wird international beachtet“. Besser: beneidet. Der britische Forscher Karl Friston rätselt, ob „Deutschland mehr immunologische dunkle Materie besitzt“. Gemeint sind Leute, „die gegen eine Infektion gefeit sind, etwa weil sie örtlich isoliert leben oder weil sie eine Form natürlicher Resistenz besitzen“.
Lauterbach ist in beiden Welten zu Hause, in der Welt der Politik und als Epidemiologe in der Welt der Gesundheitswissenschaft. Oft wird er von Wissenschaftlern gefragt, wie macht ihr das? Der SPDAbgeordnete hat darauf drei Antworten. „Wir haben Glück gehabt“, lautet die erste. „Das darf man nicht unterschätzen.“Bevor das Virus die nach Landkreisen
Das Coronavirus in Deutschland
Wie es sich verbreitet, die aktuellen Todeszahlen, wo es die meisten Fälle gibt – auf unserer interaktiven Karte: tlz.de/corona-karte
Alpen überquerte, wütete es in Italien. Die bestürzenden Bilder aus Oberitalien hätten eine „erzieherische Funktion“gehabt. „Wir haben den Ernst der Lage vor Augen geführt bekommen.“
Lauterbachs zweiter Punkt: die Politik. „Die ungeschminkte Wahrheitsübermittlung hat geholfen.“In einem internen Papier des Bundesinnenministeriums vom Frühjahr mit dem Titel „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“wird an erster Stelle die Kommunikation skizziert: Der schlimmste Fall sei „mit allen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland unmissverständlich, entschlossen und transparent zu verdeutlichen“. Von Anfang an besteht Konsens, Leben zu retten. Umso größer der Aufschrei, als der Grüne Boris Palmer auf das hohe Alter (über 80 Jahre) der meisten Toten verweist: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“
Studie: Lockdown rettete Hunderttausende Leben
Die Menschen gingen auf Abstand. Die Mess-Einheit ihrer Vorsicht ist die Reproduktionszahl des Virus. Ihr Sinkflug begann nach dem 9. März. Zu diesem Zeitpunkt wurden
Großveranstaltungen verboten. Die Kontaktverbote kamen am 22. März. Kritiker sehen einen Beleg dafür, dass die Einschränkungen überflüssig waren. In Wahrheit waren die Menschen schon vorsichtig, bevor sie dazu angehalten wurden. Dass Vorsicht allein gereicht hätte, die Infektions- und Todeszahlen zu drücken, kann man bezweifeln. Eine Studie des Imperial College in London vom Juni kommt zu dem Schluss, dass die „nicht-pharmazeutischen Interventionen“– also das Herunterfahren des öffentlichen Lebens – allein in Deutschland bis Anfang Mai 560.000 Todesfälle abgewendet hat. Die Maßnahmen hät
Pandemie-Überblick
Infizierte bislang (+tägl. Anstieg 3.108.670 (+ 51.848) 1.755.779 (+ 37.772) 793.802 (+ 23.236) 712.863 (+ 6573) 316.448 (+ 3491) 306.216 (+ 3096) 287.621 (k. A.) 282.283 (+ 6176) 253.056 (+ 422) 252.720 (+ 2514) 243.599 (+ 3291) 242.363 (+ 200) 238.339 Südafrika
(+ 9333) SaudiArabien 223.327 (+ 3674)
209.962 Türkei
(+ 1097) Deutsch- 198.229 land (+ 367) Bangla- 178.443 desch (+ 3174) Frankreich 170.094 (+ 531) Kolumbien 128.638 (+ 3768)
108.643 Kanada
(+ 300) 102.630 (+ 602)
Land
USA
Brasilien
Indien
Russland
Peru
Chile Großbri- tannien Mexiko
Spanien
Iran
Pakistan
Italien
Katar
Tote bislang
133.116 69.184 21.604 11.000 11.314 6682 44.602 33.526 28.401 12.447 5058 34.926 3720 2100 5300 9063 2275 29.979 4791 8796 146 ten die Zahl der Infektionen erfolgreich gesenkt, meint Leitautor Seth Flaxman. Auch Berit Lange, Epidemiologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, sagt unserer Redaktion: Die Maßnahmen im März waren angemessen. Hätte man länger gewartet, wären mehr Menschen gestorben. „Natürlich stimmt es, dass wir im Nachhinein Schwierigkeiten haben, nachzuvollziehen, welche Maßnahmen welchen genauen Effekt hatten.“Das sei zu der Zeit aber „nicht anders zu lösen“gewesen.
Lauterbach führt die vergleichsweise wenigen Todesfälle – seine dritte Antwort – auf das Gesundheitssystem zurück. Zu den „unbesungenen Helden“gehören für ihn die Gesundheitsämter. Sie hätten bei der Verfolgung der Infektionsketten „fantastische Arbeit“geleistet. Unterschätzt werden aus seiner Sicht bis heute die Schutzmasken. Sie würden auch helfen, sollte im Herbst eine zweite Welle kommen, weil sich die Menschen dann mehr in geschlossenen Räumen aufhalten werden und das Ansteckungsrisiko bis zu 20-mal höher ist.
Lauterbach wünscht sich, „dass wir die Bevölkerung bei der Stange halten“. Vor allem hofft er auf einen Impfstoff. Viele Menschen wurden infiziert, ohne Symptome zu haben. Sie haben nie einen Test gemacht. Sie dürften immun sein und wissen es nicht einmal. Eine zehnfache Unterschätzung der Infektionszahlen wird von Fachleuten für realistisch gehalten. Das würde heißen, dass Deutschland sich gerade nicht dem Fall 200.000 nähert, sondern dem zweimillionsten.