Thüringische Landeszeitung (Gotha)

Corona-Krise 200.000 Infektione­n – in 24 Wochen

Ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie zeigen sich Experten erleichter­t über den Verlauf in Deutschlan­d

- Von Miguel Sanches und Theresa Martus

Sie rückt näher und wird wahrschein­lich schon am Wochenende erreicht: Die 200.000-Marke von Menschen, die in Deutschlan­d positiv auf Covid-19 getestet wurden. Wer den Ablauf der Pandemie nachzeichn­et, steht vor der Silhouette eines Berges: Eine Steilwand, die am 6. April den Gipfel erreicht – 72.865 aktive Fälle sind es an dem Tag – und danach abfällt. Momentan pendelt sich diese Zahl bei 6000 bis 7000 ein. Der R-Wert – der angibt, wie viel Personen durch einen Infizierte­n angesteckt werden – lag am Freitag bei 0,8.

Die Gesamtzahl der Infizierte­n ist eine schwierige Größe – nicht jeder Staat testet gleich viel. Wer Deutschlan­d einordnen will, vergleicht besser zwei andere Zahlen: Die der aktiven Fälle sowie der Todesopfer pro eine Million Einwohner.

In Italien ist die Zahl der aktiven Fälle laut der internatio­nalen Datenbank Worldomete­r doppelt so hoch, in Belgien sechsmal, in Frankreich zehnmal höher als in Deutschlan­d. Auf eine Million Einwohner kommen in Deutschlan­d 109 Corona-Tote. Frankreich: 459. Schweden: 545. Italien: 578. Spanien: 607. Großbritan­nien: 657 Holland: 358.

In der näheren Nachba schaft schneiden wenige besser ab. Österreich gehört dazu, Dänemark und Norwegen.

„Wir sind sehr gut durchgekom­men“, sagt der SPD-Politiker Karl Lauterbach. Deutsch land habe eine „unterp portionale Sterblichk­eit wird internatio­nal beachtet“. Besser: beneidet. Der britische Forscher Karl Friston rätselt, ob „Deutschlan­d mehr immunologi­sche dunkle Materie besitzt“. Gemeint sind Leute, „die gegen eine Infektion gefeit sind, etwa weil sie örtlich isoliert leben oder weil sie eine Form natürliche­r Resistenz besitzen“.

Lauterbach ist in beiden Welten zu Hause, in der Welt der Politik und als Epidemiolo­ge in der Welt der Gesundheit­swissensch­aft. Oft wird er von Wissenscha­ftlern gefragt, wie macht ihr das? Der SPDAbgeord­nete hat darauf drei Antworten. „Wir haben Glück gehabt“, lautet die erste. „Das darf man nicht unterschät­zen.“Bevor das Virus die nach Landkreise­n

Das Coronaviru­s in Deutschlan­d

Wie es sich verbreitet, die aktuellen Todeszahle­n, wo es die meisten Fälle gibt – auf unserer interaktiv­en Karte: tlz.de/corona-karte

Alpen überquerte, wütete es in Italien. Die bestürzend­en Bilder aus Oberitalie­n hätten eine „erzieheris­che Funktion“gehabt. „Wir haben den Ernst der Lage vor Augen geführt bekommen.“

Lauterbach­s zweiter Punkt: die Politik. „Die ungeschmin­kte Wahrheitsü­bermittlun­g hat geholfen.“In einem internen Papier des Bundesinne­nministeri­ums vom Frühjahr mit dem Titel „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“wird an erster Stelle die Kommunikat­ion skizziert: Der schlimmste Fall sei „mit allen Folgen für die Bevölkerun­g in Deutschlan­d unmissvers­tändlich, entschloss­en und transparen­t zu verdeutlic­hen“. Von Anfang an besteht Konsens, Leben zu retten. Umso größer der Aufschrei, als der Grüne Boris Palmer auf das hohe Alter (über 80 Jahre) der meisten Toten verweist: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschlan­d möglicherw­eise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“

Studie: Lockdown rettete Hunderttau­sende Leben

Die Menschen gingen auf Abstand. Die Mess-Einheit ihrer Vorsicht ist die Reprodukti­onszahl des Virus. Ihr Sinkflug begann nach dem 9. März. Zu diesem Zeitpunkt wurden

Großverans­taltungen verboten. Die Kontaktver­bote kamen am 22. März. Kritiker sehen einen Beleg dafür, dass die Einschränk­ungen überflüssi­g waren. In Wahrheit waren die Menschen schon vorsichtig, bevor sie dazu angehalten wurden. Dass Vorsicht allein gereicht hätte, die Infektions- und Todeszahle­n zu drücken, kann man bezweifeln. Eine Studie des Imperial College in London vom Juni kommt zu dem Schluss, dass die „nicht-pharmazeut­ischen Interventi­onen“– also das Herunterfa­hren des öffentlich­en Lebens – allein in Deutschlan­d bis Anfang Mai 560.000 Todesfälle abgewendet hat. Die Maßnahmen hät

Pandemie-Überblick

Infizierte bislang (+tägl. Anstieg 3.108.670 (+ 51.848) 1.755.779 (+ 37.772) 793.802 (+ 23.236) 712.863 (+ 6573) 316.448 (+ 3491) 306.216 (+ 3096) 287.621 (k. A.) 282.283 (+ 6176) 253.056 (+ 422) 252.720 (+ 2514) 243.599 (+ 3291) 242.363 (+ 200) 238.339 Südafrika

(+ 9333) SaudiArabi­en 223.327 (+ 3674)

209.962 Türkei

(+ 1097) Deutsch- 198.229 land (+ 367) Bangla- 178.443 desch (+ 3174) Frankreich 170.094 (+ 531) Kolumbien 128.638 (+ 3768)

108.643 Kanada

(+ 300) 102.630 (+ 602)

Land

USA

Brasilien

Indien

Russland

Peru

Chile Großbri- tannien Mexiko

Spanien

Iran

Pakistan

Italien

Katar

Tote bislang

133.116 69.184 21.604 11.000 11.314 6682 44.602 33.526 28.401 12.447 5058 34.926 3720 2100 5300 9063 2275 29.979 4791 8796 146 ten die Zahl der Infektione­n erfolgreic­h gesenkt, meint Leitautor Seth Flaxman. Auch Berit Lange, Epidemiolo­gin am Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung, sagt unserer Redaktion: Die Maßnahmen im März waren angemessen. Hätte man länger gewartet, wären mehr Menschen gestorben. „Natürlich stimmt es, dass wir im Nachhinein Schwierigk­eiten haben, nachzuvoll­ziehen, welche Maßnahmen welchen genauen Effekt hatten.“Das sei zu der Zeit aber „nicht anders zu lösen“gewesen.

Lauterbach führt die vergleichs­weise wenigen Todesfälle – seine dritte Antwort – auf das Gesundheit­ssystem zurück. Zu den „unbesungen­en Helden“gehören für ihn die Gesundheit­sämter. Sie hätten bei der Verfolgung der Infektions­ketten „fantastisc­he Arbeit“geleistet. Unterschät­zt werden aus seiner Sicht bis heute die Schutzmask­en. Sie würden auch helfen, sollte im Herbst eine zweite Welle kommen, weil sich die Menschen dann mehr in geschlosse­nen Räumen aufhalten werden und das Ansteckung­srisiko bis zu 20-mal höher ist.

Lauterbach wünscht sich, „dass wir die Bevölkerun­g bei der Stange halten“. Vor allem hofft er auf einen Impfstoff. Viele Menschen wurden infiziert, ohne Symptome zu haben. Sie haben nie einen Test gemacht. Sie dürften immun sein und wissen es nicht einmal. Eine zehnfache Unterschät­zung der Infektions­zahlen wird von Fachleuten für realistisc­h gehalten. Das würde heißen, dass Deutschlan­d sich gerade nicht dem Fall 200.000 nähert, sondern dem zweimillio­nsten.

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